Wer hätte das gedacht? Dass das neue Werk von Thilo Sarrazin nichts anderes ist als ein großer Haufen Scheiße, den man zwischen zwei Buchdeckel gepackt und mit jeder Menge Rassismus gewürzt hat? Darf ich sagen, dass ich das schon vorher wusste, also vor dem Erscheinungstermin? Was wäre anderes zu erwarten gewesen von diesem Mann? Er ist ein billiger Hetzer, der sein Süppchen gerne auf den Flammen allgemeiner Erregung köcheln lässt.

Man hätte also den Termin der Veröffentlichung ohne Probleme verstreichen lassen und kein Wort über sie verlieren können, es wäre niemandem ein Schaden entstanden, außer vielleicht Thilo Sarrazin, dessen Ego möglicherweise durch kollektive Nichtbeachtung ein wenig lädiert worden wäre. Das wäre doch mal was gewesen. Thilo Sarrazin totschweigen, endlich mal das tun, was die rechten Dumpfnacken der medialen Welt ohnehin vorwerfen.

Natürlich ist genau das nicht geschehen. Alle haben über Thilo Sarrazins Buch geschrieben. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie es denn aus reiner Chronistenpflicht getan hätten, wenn sie es in einem Eckchen weiter hinten abgehandelt und es nicht mehrheitlich prominent platziert hätten, fettes Bild inklusive. Der Pressetermin zum Termin ist aus allen Nähten geplatzt, weil alle ihn wollten: Thilo Sarrazin. Und alle haben ihn gekriegt. Der „Stern“ hat sogar ein mehrseitiges Interview.

Natürlich haben alle seriösen Medien das Buch sauber zerlegt, haben dem Autor nachgewiesen, dass er ein veritabler Hetzer ist, der sich die Fakten so dreht, wie er sie braucht, um besonders effektiv hetzen zu können. Allerdings wusste man genau das vorher. Es ist dementsprechend nicht davon auszugehen, dass Sarrazin sehr überrascht war von den Verrissen. Sie dürften ihm egal gewesen sein, er hat sein Ziel erreicht. Beinahe alle sind ihm auf den Leim gegangen. Er hat sich selbst als Stöckchen hingehalten, und beinahe alle Medien sind drüber gesprungen, obwohl es in der Vergangenheit doch so viele Appelle gab, dass man doch bitteschön nicht über jedes Stöckchen springen möge, das einem rechte Hetzer hinhalten.

Es scheint, als verhallten solche Appelle in dem Moment, in dem sie ausgesprochen werden, rückstandslos. Sie sind weg, fort, verschwunden, bevor sie sich tiefer ins Bewusstsein einer Ich-muss-meine-Seiten-und-Sendungen-vollmachen-Industrie graben könnten. Wie viele Bekenntnisse zu verantwortungsvollem Tun hat es schon gegeben? Wie viele Versprechen hat es gegeben, beim nächsten Aufreger bewusster an die Sache heranzugehen? Die Versprechen waren kaum gegeben, da waren sie schon gebrochen.

Sehr schön kann man das auch demonstrieren an den medialen Wallungen, die ein Donald Trump auslöst. Jeder seiner Twitter-Fürze wird brav reportiert, und jedes Mal wenn irgendein ehemaliger Mitarbeiter Trumps an die Öffentlichkeit tritt und Dinge aus seiner Zeit der Zusammenarbeit mit Trump berichtet, läuft wieder die große Jetzt-wird-es-aber-eng-für-Trump-Nummer an. Dann spekuliert man ellenlang, ob dies nun endlich das Tröpfchen ist, welches das randvolle Fass endlich zum Überlaufen bringt.

Bringt es nicht. Wird es auch in Zukunft nicht bringen. Vielleicht sollte man endlich mal kapieren, dass die Amerikaner mehrheitlich an Trump festhalten wollen, weil sie sonst niemanden zu haben glauben. Sie dackeln deshalb diesem halbseidenen Typen hinterher, und das wird auch so bleiben. Nur bei uns wird immer wieder die Hoffnung geschürt, es könne bald vorbei sein mit diesem Desaster.

Aber es wird nicht so bald vorbei sein, es wird andauern, und wenn man die Zeichen der Zeit richtig deutet, dann wird es möglicherweise auch noch eine zweite Amtszeit geben, weil Trump das Land bis dahin in einen so wackligen Zustand manövriert haben wird, dass nur er selbst als Retter der von ihm verursachten Katastrophe in Frage kommt.

Man könnte also zurückkehren zur Normalberichterstattung, müsste entscheiden, was wirklich wichtig ist und den Rest einfach weglassen. Vielleicht wäre es ja ein Anfang, wenn man wenigstens nicht mehr jede Minimeldung mit einem Bild dazu adelte. Mich persönlich beleidigt das. Ich komme prima ohne seine Porträts aus.

Um nicht missverstanden zu werden: Wichtige Meldungen über Taten des US-Präsidenten darf und muss man weiter reportieren, aber all die Spekulation gewordenen Hoffnungen auf eine verfrühte Absetzung darf man sich gerne schenken, sie dienen letztlich nur der Verfestigung seiner Position.

So wie die Verrisse von Sarrazin-Büchern nur dessen Umsätzen dienen. Die simplen Gemüter, die gerne mithetzen wollen, haben ihn eh auf der Liste, und die Bestsellerlisten wird er raketengleich erklimmen. Aber nun, da sich alle an ihm wundgesendet und –geschrieben haben, werden sich noch ein paar mehr Menschen davon überzeugen wollen, dass das, was er da hingeschmiert hat, großer Mist ist.

Sarrazin wird sich darüber ebenso erfreut die Hände reiben wie über den neuerlich bekannt gewordenen Versuch, ihn aus der SPD zu werfen. Er wird das amüsiert zur Kenntnis nehmen, weil es ihn zum designierten Märtyrer macht. Die SPD hätte ihn lange schon feuern können, wenn denn irgendwer in der Partei noch die Eier hätte, so etwas zu durchzusetzen. Man hat es nicht durchgezogen. Wer es jetzt fordert, hilft Sarrazin nur dabei, Bücher zu verkaufen.

Auch dieser Text ist schon wieder einer zu viel. Aber was soll man machen, wenn man sieht, was alles schief läuft, wenn fast alle anderen alles falsch machen, wenn man es schon als Erfolg werten muss, dass der „Spiegel“ nicht wieder mit einem Vorabdruck glänzt und wenigstens die ARD-Talkshows am Sonntag und Montag ohne Sarrazin auskommen.

Wie man’s macht, macht man es falsch. Im Prinzip müsste ich diesen Text noch vor Veröffentlichung in die Tonne kloppen, um nicht auch zum heimlichen Umsatzbeförderer zu werden. Ich tue es nicht und spüre sofort, in welchem Dilemma all die Kollegen da draußen stecken. Man möchte was sagen, was man besser nicht sagen sollte, aber meint, unbedingt sagen zu müssen. Und dann sagt man es halt und macht es wieder falsch. Stinknormaler Journalismus dieser Tage.