Von größtmöglicher Authentizität sprechen Fernsehproduzenten und Sender immer dann, wenn eigentlich gemeint ist: Nicht echt, aber so echt wie möglich. Kaum ein Format aus dem Bereich Factual Entertainment, wahlweise auch Dokusoap oder bei den International Emmy Awards Non-scripted Entertainment genannt, kam in den vergangenen Jahren ohne diesen Stempel aus - und das obwohl die Begrifflichkeit angesichts so vieler Verfehlungen und Skandale schon längst wertlos geworden war. Die Beteuerung von Authentizität wurde derart überstrapaziert, dass es echten Geschichten im Fernsehen heute doppelt schwer fällt, ein Publikum zu finden: Weil die Zuschauer auf der einen Seite längst misstrauisch geworden sind und reflexartig von Fake sprechen. Auf der anderen Seite haben durchformatierte Sendungen mit optimiertem Storytelling die Sehgewohnheiten verdorben.



Und trotzdem kämpft sich die Realität in diesem Jahr mit aller Wucht ins Fernsehen zurück und verleiht dem beinahe bis zur Unkenntlichkeit aufgeweichtem Genre wieder eine lange vergessene Relevanz. „Team Wallraff“ und die RTL-Recherchen zu Burger King sind da beispielhaft. Doch dieser Trend lässt sich auch international beobachten, wie das International Emmy Festival in New York am Wochenende zeigte. Krishna Mahon ist die Produzentin des brasilianischen Formats „O Infiltrado“, in dem Journalist Fred Melo Paiva in jeder Folge mit offenem Visier ihm und dem Zuschauer fremde Welt „infiltiert“ - also im weitesten Sinne eine investigative Version von „Schulz in the box“. „Diese Verpackung ist das Vehikel, um sperrige Themen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Letztlich ist es ja immer noch Entertainment“, sagt Mahon. Ihre Sendung läuft beim brasilianischen History Channel.

Mit dem Blick auf den US-Markt fügt Mahon hinzu, dass sie zuletzt sehr enttäuscht gewesen über den Trend zum vorab geplanten Storytelling. Charaktere und deren erlebte Geschichten standen in den vergangenen Jahren zunehmend im Mittelpunkt von Factual Entertainment. Stichwort: „Duck Dynasty“. Ein perfekt ausbalancierter Spannungsbogen in jeder Episode sei lange Zeit wichtiger gewesen als Erkenntnisgewinne. Das kritisiert auch David Brindley vom britischen TV-Produzenten Twofour. Sein „Educating Yorkshire“ (für Channel 4 in Großbritannien) erzählt in acht Folgen das Leben an einer weiterführenden Schule in Dewsbury, West Yorkshire. Könnte man schnell abfilmen. Den Unterschied macht hier aber die Arbeit dahinter: Das Format war ein Mammut-Projekt und die Vorgehensweise so gründlich, wie man es kaum noch für möglich hält.

Für sieben Wochen wurden das Schulgebäude und -gelände für den Dreh mit 64 festinstallierten Kameras und 22 Funkmikrofonen versehen. Ohne die Anwesenheit von Kameraleuten sollte so der Alltag unverfälschter aufgenommen werden können. Bevor jedoch gedreht werden konnte, wurde das Projekt mit Schülern, Lehrern und Eltern abgestimmt. Ein Prozess, der gut ein halbes Jahr dauerte. Die Produktionsfirma veranstaltete Schülerversammlungen, Eltern-Abende und mehr als 100 Hausbesuche, um über das Projekt aufzuklären. 16 von 747 Schülern baten darum, nicht im Fernsehen gezeigt zu werden. Knapp 40 weitere Schüler sollten auf Wunsch der Eltern nicht zum Mittelpunkt der Geschichte gemacht werden.

Nach den Dreharbeiten ging der Aufwand weiter: Alle Beteiligten bekamen ihre Szenen vor der TV-Ausstrahlung zu sehen - und die Eltern hatten bis zur TV-Ausstrahlung ein Veto-Recht. Für die Produktionsfirma war das ein nicht unerhebliches Risiko, doch das Vertrauen habe sich ausgezahlt, erzählt David Brindley. Nötig sei dafür aber auch ein Umdenken bei den Sendern. Garantierte Spannungs- und Handlungsbögen kann es nicht geben, wenn man auf tatsächlich reale Geschichten setzen will. Dieses Risiko müssten die Sender akzeptieren. Am Ende gewinne das Fernsehen auf jeden Fall an Glaubwürdigkeit und Relevanz. Worte, die im Bereich des Unterhaltungsfernsehens lange fehlten - bei uns wie auf der internationalen Bühne. Mag 2014 auch in erster Linie als das Jahr der neuen Serienlust in Erinnerung bleiben, so ist im Non-Fiktionalen diese Entwicklung nicht zu vergessen.

Beim International Emmy Festival in New York herrschte am Wochenende unter den Produzenten Einigkeit darin, dass Factual bzw. Non-Scripted Entertainment künftig weitaus dokumentarischer und ergebnisoffener ausfallen wird als bisher. Wenn nur die Sender die Rechnung dafür bezahlen würden. Schließlich lässt sich Fernsehen dann nicht mehr kostengünstig in Staffeln vorproduzieren und muss ggf. ausgestrahlt werden, sobald sich etwas ergibt - wie es bei "Team Wallraff" der Fall ist. Hier ist RTL schon nach dem Erfolg der Sendungen im Frühjahr aus der Staffel-Ausstrahlung ausgestiegen, um on air gehen, wenn Recherchen etwas ergeben. In unserer stark formatierten Fernsehlandschaft ist das ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt. Der Inhalt gibt wieder die Form vor - und nicht umgekehrt.