Herr Reinke, würden Sie jungen Menschen heute noch empfehlen, zum Radio zu gehen?

Das empfehle ich immer. Die Frage ist nur, was die jungen Leute von einem Job beim Radio erwarten. Es lohnt sich, ein Praktikum oder Volontariat zu machen, um für sich herauszufinden, ob das Medium in seiner jetzigen Form für sie interessant ist. Wenn man sich eine Entfaltung der künstlerischen Persönlichkeit erhofft und der Meinung ist, das beim Formatradio der heutigen Zeit zu realisieren, dann sehe ich schwarz für den Spaß an der Arbeit. Aber wenn man den Leuten mit ein paar Worten Spaß bereiten möchte und kein Problem damit hat, Musik zu spielen, auf deren Auswahl man keinen Einfluss hat, dann kann das durchaus ein reizvoller Beruf sein.

Ein desillusionierender Start in unser Gespräch.

Wenn einer wie ich, der mit dem Radio der 60er, 70er und 80er Jahre aufgewachsen ist und unter einem großartigen Chef wie Hanns Verres arbeiten durfte, da heute hineingeraten würde, der wäre furchtbar desillusioniert. Aber wir befinden uns in der Jetzt-Zeit, da stellt sich die Situation womöglich anders dar. Vielleicht genügt es da schon, von den Nachbarn im Radio erkannt zu werden. Dann ist das auch heute noch ein schöner Job.

Wer imponiert Ihnen eigentlich heute noch, wenn Sie Radio hören?

Schwierige Frage. Jemandem, der seit 43 Jahren Radio macht, imponiert kaum einer, weil ich schlicht schon nahezu alles gesehen und gehört habe. Das spricht nicht gegen die Leute am Mikrofon, sondern für meine lange Erfahrung in dem Medium. Jeder, der mir imponiert hat, war in der Vergangenheit tätig. Aber selbstverständlich gibt es noch immer Leute, die beispielsweise im Kulturradio tätig sind und mit Features und Hörspielen eine erstklassige Arbeit leisten.

Vor 15 Jahren war kaum absehbar, dass Sie mit 70 Jahren noch eine Radioshow moderieren würden. Wieso ist es letztlich doch so gekommen?

Da müssen Sie eher meinen Brötchengeber fragen, der mich machen lässt. Ich bin nach wie vor an der Samstagmorgen-Sendung bei hr1 beteiligt und bringe ins Radio, was meine Kollegin Lidia Antonini zusammenstellt. Man lässt uns einfach gewähren. Und glücklicherweise sind die Hörer-Reaktionen so, dass hr1 und ich zu dem Ergebnis kommen, die Sendung fortzuführen. So lange alle drei Parteien Spaß daran haben – in erster Linie die Hörer, in zweiter Linie der Hessische Rundfunk und dann ich –, mache ich das weiter. 

Werner Reinke© hr/Nicole Kohlhepp)
Ich frage auch deshalb, weil Sie sich eigentlich längst vom Radio verabschiedet hatten. Und zwar bereits 1989.

Als in Hessen die private Konkurrenz aufkam, habe ich mich vom Hessischen Rundfunk verabschiedet, weil ich der Meinung war, dass der Weg, den sie plötzlich einschlugen, nichts mehr mit meiner Vorstellung von Radio zu tun hat. Die Menschen, mit denen ich arbeitete, wollten vorauseilend das machen, was sie für kommerzielles Radio hielten, und das widersprach in vielen Dingen meinen Idealen. Daher begab ich mich auf den freien Markt, von dem ich vorher schon wusste, dass er existierte. Ich habe also meine Stimme verkauft, habe Veranstaltungen moderiert, Werbung gemacht und brauchte den Rundfunk gar nicht mehr. Eine weitere Karriereplanung fürs Radio gab es also nicht. Doch dann stand das 30-jährige Jubiläum von hr3 im Jahr 2002 an und Jörg Bombach, der damalige Wellenchef, kam auf mich zu und wollte noch einmal all jene Menschen, die einst an der Gründung des Senders beteiligt waren, ins Boot holen.

Und schon war das Comeback geboren?

Ganz so schnell ging es nicht. Zunächst stellten sie sich vor, dass ich mal fünf Minuten in der Frühsendung auftauche, was ich jedoch ablehnte. Der Moderator kannte mich nicht, ich kannte den Moderator nicht – und nach fünf Minuten würden wir feststellen, dass wir nichts voneinander hatten und die Hörer ratlos zurückließen. Das wollte ich uns allen gerne ersparen. Daraufhin hatte Rüdiger Edelmann die wunderbare Idee, Reinke vier Wochen lang die "Mittags-Discotheke" wieder moderieren zu lassen, die ich bei der Gründung von hr3 gemacht habe. Das fand ich reizvoll und habe die Sendung schließlich gemeinsam mit Jürgen Rasper umgesetzt. Er hat mich, der ja im analogen Radio ausgeschieden war, zunächst ins volldigitale Radio einweisen müssen und mir alle Regler gezeigt, die ich ziehen musste. (lacht) Die Reaktionen der Hörer auf meine Rückkehr waren so intensiv, dass hr3 und ich eine neue Sendung entwickelten, die bis heute – wenn auch inzwischen auf einer anderen Welle – Bestand hat.

Hatten Sie Bedingungen an den Sender gestellt? In der Zwischenzeit hatte sich der Radiomarkt ja sehr stark verändert und FFH wuchs zum Marktführer in Hessen heran.

Das war gar nicht nötig, weil mein alter Fahrensmann Bombi an Bord war und ich wusste, dass er meine Arbeitsweise kennt. Ihn konnte es also nicht überraschen, dass ich Einfluss auf die Musikgestaltung in meiner Sendung nehmen möchte, so wie ich das früher schon gemacht habe. 

Sie machen die Sendung nicht alleine, sondern haben seit vielen Jahren die Musikredakteurin Lidia Antonini an Ihrer Seite, von der sie gerade sprachen. 

Diese Verbindung ist in jeder Beziehung eine besondere. Nachdem ich das Radio verließ, hatte ich zunächst kein großes Interesse mehr daran, Musik so intensiv zu konsumieren wie man das als Musikredakteur ja tut. Ich hatte 2002 somit überhaupt keine Kenntnis von der Popmusik der kompletten 90er Jahre sowie der beginnenden 00er Jahre und brauchte daher Unterstützung. Lidia kannte ich schon seit fast 20 Jahren, daher wusste ich, dass wir musikalisch exakt gleich ticken. Mein Vorschlag war daher, Lidia das Programm zusammenstellen und mich moderieren zu lassen. Das klappt bis heute grandios, weil wir beide in der Arbeitsweise nicht eitel sind. Sie ist auch nicht beleidigt, wenn ich ihr einen Titel aus der Sendung rauskicke, weil sie ja so viele Titel in der Schublade hat, dass wir sie beliebigfach ersetzen können und trotzdem eine gute Sendung hinbekommen. Wir machen das also vollkommen locker und in den Knien federnd. 

Wie läuft die Planung der Sendung ab?

Lidia sucht die Titel heraus, ich komme donnerstags oder freitags ins Funkhaus und schreibe mir ihre Informationen "aufs Maul", sodass ich am Samstagmorgen in jedem denkbaren Zustand antanzen und die Sendung gut gelaunt runtersenden kann.

Die vermeintlichen Experten, die eine immer kleiner werdende Playlist für ihre Formatradios zusammenstellen müssen, sind Ihnen vermutlich ein Gräuel?

Die Experten sind mir per sé kein Gräuel. Diese Menschen wären es allerdings, wenn sie sich als Experten betrachten würden. Ich kenne einen Mann, der von sich selbst sagt, er könne mit Popmusik gar nichts anfangen. Dabei ist er Musikchef einer Popwelle! Allerdings muss er mit Popmusik gar nichts mehr anfangen können, sondern nur noch die von Beraterfirmen vorgegebenen Statistiken lesen – und so versteht er seinen Job auch. Für die Programmgestaltung im Radio von heute sind manchmal nur noch reine Statistiker und Verwalter von Daten verantwortlich, die sich für die Musik gar nicht mehr interessieren. 

Sie würden mir also zustimmen, wenn ich behaupte, dass das Radio in den vergangenen Jahren, ja fast schon Jahrzehnten zunehmend seine Seele verloren hat?

Da gebe ich Ihnen uneingeschränkt recht.