Frau Schodder, Non-Fiction wird wichtiger für Netflix, nicht zuletzt weil mit dem Einstieg in die Werbevermarktung mehr populäres Programm gebraucht wird…

Non-Fiction wird definitiv wichtiger; wir haben da zwei Blickwinkel. Zum einen der lokale Markt, den wir anschauen, um zu klären, ob es einen Appetit für Non-Fiction-Programme gibt. Da verrate ich kein Geheimnis, dass die Antwort für den deutschsprachigen Raum ganz klar ausfällt. Ja, den gibt es. Und dann gibt es andererseits auch noch die zweite Ebene, die wir berücksichtigen: Die Erfahrungen, die Netflix international schon gesammelt hat. Ich bin jetzt inzwischen ein Jahr hier und lerne von all den Märkten, die das Non-Fiction-Angebot hochgefahren haben: Es spricht viel dafür.

Mit dem fiktionalen Angebot wollte sich Netflix - wie andere Streamer - anfangs bewusst unterscheiden von dem, was es im Markt schon gab. Bei Non-Fiction-Programmen, zum Beispiel Reality, gibt es aber bereits ein großes Angebot….

Stimmt, wir müssen nicht antreten, wenn wir das Gleiche nochmal anbieten. Genau deswegen haben wir die Formel der 2 Ps für uns herausgearbeitet, die auf den Punkt bringt, wonach wir suchen. Das erste P steht für populär. Also: Können wir mit der Idee viele Menschen begeistern? Ich habe einen Produzenten kürzlich im Restaurant gefragt: Wie viele Hände würden denn jetzt hier im Raum hochgehen, wenn ich fragen würde, wer XY kennt? Wir müssen durch die große Tür gehen. Das zweite P steht für Premium und da fordern wir die Produzent*innen auch immer wieder heraus. Ist das wirklich Best in Class? Ist es das beste Genre, ist es die beste IP, ist es das beste Talent? Haben wir wirklich alles ausgereizt? Eine Frage, die sich von der Entwicklung bis zum letzten Schnitttag durchzieht. Das ist anspruchsvoll. Deswegen ist wichtig zu sagen: Uns geht es nicht um Masse, sondern darum, die Sendungen zu produzieren, die die Leute wirklich lieben.

Geht es dabei um Local for Local-Produktionen? Oder schielt man auch im Non-Fiction-Bereich auf internationale Verwertbarkeit?

Wir haben grundsätzlich einen Local-for-Local-Ansatz für unsere aktuell bereits über 12 Millionen Mitglieder in der DACH-Region. Damit sind wir auch nicht mehr Nische. Man muss aber unterscheiden: Wir haben Unscripted Formate, also Reality Entertainment, und dann haben wir Dokusoaps und Dokumentationen. Unscripted Formate sind weniger reisefreudig; bei Dokumentationen wie zum Beispiel True Crime ist das schon anders. Das haben wir gerade mit „Der Fall Jens Söring“ gemerkt.

Gibt es eigentlich eine Zielgruppe, die Sie im Sinn haben?

Nach 20 Jahren Quotenbetrachtung und der Feststellung, dass einzelne Unter-Zielgruppen immer kleiner und diese Rechenspiele immer etwas unseriöser werden, empfinde ich es bei Netflix als besonders wertvoll, dass wir nicht auf Alter und Geschlecht schauen. Viel wichtiger: Wer oder was prägt gerade den Zeitgeist? Damit löst man sich von demografischen Fragen. In der Fiction haben „Wednesday“ und „Sex Education“ zum Beispiel gezeigt, dass eine sicher eher für Jüngere gemachte Serie auch bei älterem Publikum sehr gut ankam. Und auch bei „Too Hot to Handle“ haben wir mehr erreicht als nur die TikTok-Bubble.

Nach DWDL-Informationen gibt es eine neue Staffel von „Too Hot to Handle“, aber auch einen Wechsel der Produktionsfirma. Das ist ungewöhnlich. Warum?

Wir schauen uns bei jedem Projekt individuell das Setup an. Für die erste Staffel war UFA Show & Factual für das Fremantle-Format die richtige Kombination, bei der zweiten Staffel haben wir uns die Frage wieder gestellt und waren natürlich auch mit Fremantle im Austausch über mögliche Optionen. Letztendlich haben wir uns dann für Seapoint und Produzentin Nina Klink und Nora Kauven in Zusammenarbeit mit Fremantle entschieden. Die neue Staffel kommt dann Anfang nächsten Jahres.

 

"Auch für mich persönlich ein melancholisch schöner Moment, dass mein erster Produktionsauftrag bei Netflix an ProSiebenSat.1 ging"

 

Müssen Fans des Reality-Genre so lange warten?

Natürlich nicht (lacht). Wir haben in diesem Jahr drei deutsche Reality-Projekte im Angebot. „Fight for Paradise“ kommt schon im April und ist ein Sozialexperiment, das wir mit Banijay Productions für Deutschland umgesetzt haben; den Fokus legen wir dabei auf das Vertrauen und Misstrauen der Kandidat*innen. Und im Herbst kommt „Love is Blind Germany“. Ein riesiges Projekt, das “populär und Premium” sehr gut einlöst. Das produzieren wir mit Redseven Entertainment – auch für mich persönlich ein melancholisch schöner Moment, dass mein erster Produktionsauftrag bei Netflix an ProSiebenSat.1 ging. Christiane Heinemann ist als tolle Produzentin, Anna Lena Zwez als Executive Producerin dabei. 

Was hebt Realityformate von Netflix jetzt vom bestehenden Angebot ab?

Wir sind wirklich bereit mehr zu investieren. Wir geben viel Budget, Zeit, Ausdauer und Mut rein und wollen so mit den Kreativen dafür sorgen, dass wir alles nochmal ein Level steigern. Das ist die Legacy, die unsere Fiction-Kolleg*innen ja schon vorgelebt haben. „Kleo“ zum Beispiel ist schließlich zunächst erst einmal eine Geschichte rund um den Mauerfall, aber eben als Actionserie mit Agentin im Mittelpunkt erzählt. Und so wollen wir immer das Besondere suchen.

Fast ein offenes Geheimnis in der Branche war ein Projekt mit Tom und Bill Kaulitz.

Das wir jetzt offiziell bestätigen können. Am 25. Juni startet „Kaulitz & Kaulitz“…

Naheliegender Name...

(lacht) Ja, aber wir haben tatsächlich einige Zeit über den Titel nachgedacht und nochmal überlegt: Mit welchem Namen assoziiert man zum Beispiel die Realityshow mit der Kim Kardashian berühmt wurde…? „The Kardashians“! Also: „Kaulitz & Kaulitz“. Interessant an dem Projekt ist eine neue Farbe in dem Genre. Mit Constantin Entertainment haben wir einen sehr entertainment-erfahrenen Produzenten und für die Regie konnten wir Michael Schmitt gewinnen, der für uns „Shiny Flakes“ gemacht hat und aus der Dokumentation kommt. Bei Kaulitz & Kaulitz trifft Dokumentation auf Reality-TV. 

Seit wann wurde das produziert?

Wir haben vergangenen Sommer angefangen. Mal in Los Angeles, mal in Deutschland. Mal mit und mal ohne Tokio Hotel. Möglicherweise kommt auch Heidi Klum vor. Es werden acht Folgen sein. Wir sind gerade am Ende der Postproduktion und ich finde es luxuriös, dass wir uns nicht an starre Sendeplätze und Längen halten müssen. Das hatte ich jahrelang. Aber mich muss es gerade nicht interessieren, was wir an einem Freitag im August um 22 Uhr zeigen. Stattdessen können wir Geschichten die Zeit geben, die sie brauchen, um ihr volles Potenzial zu erreichen.

Bei dem entsprechend langen Vorlauf dieser Art von Begleitung mit der Kamera die Nachfrage: Gibt es schon nächste Projekte?

Stars & Icons ist ein Segment, in dem wir uns auch – wie bei den Kaulitz-Brüdern – anschauen, wer den Zeitgeist prägt und wer bereit ist, seine Geschichte zu erzählen. Und dabei haben wir die völlige Freiheit, weil wir nicht in vorgefertigten Längen oder fixen Terminen denken müssen. Man kann also erst einmal in Gespräche gehen.

Und mit wem sind Sie in Gespräche gegangen?

Da gibt es Einige, aber ein Projekt ist jetzt schon spruchreif: Wir sind sehr stolz, dass wir die Geschichte von Shirin David erzählen werden. Die erfolgreichste Rapperin Deutschland, dazu Unternehmerin und Feministin, hat uns ihr Vertrauen geschenkt. Ihre erste Tour, das Duett mit Helene Fischer, der Zwist mit Thomas Gottschalk - da steckt schon viel drin.

Kommen wir zu True Crime. Da wurde kürzlich schon „Crime Scene Berlin: Nightlife Killer“ angekündigt. kommt da mehr?

True Crime ist ein Genre, das eng mit Netflix verknüpft ist. Das wird von uns erwartet und wir bauen unseren deutschen Slate weiter aus. Der Appetit ist wirklich groß. „Crime Scene Berlin: Nightlife Killer“ ist am 3. April der erste Aufschlag, produziert von den Beetz Brothers mit der internationalen Storytelling-Expertise von Joe Berlinger. Wichtig ist auch hier: Wir müssen bei True Crime auf Netflix immer ein neues Level erreichen. Es muss Gänsehaut non-stop geben und darf nicht zu deskriptiv werden. Mit den Beetz Brothers erzählen wir beispielsweise die Geschichte vom „German Hitman“ Werner Pinzner, genannt Mucki, der in den 80er Jahren auf der Reeperbahn gefürchtet war. Ein spannender Kosmos, bei dem wir einen neuen Zugang über weibliche Perspektiven haben. Diesen neuen Blickwinkel zeigen wir auch mit einer Produktion über den österreichischen Serienmörder Jack Unterweger; Partner dabei ist die Thursday Company. 

Wie gehen Sie damit um, dass solche Produktionen grausame Personen mitunter auf ein Podest heben?

Da reden wir tatsächlich viel drüber in unserem Team, das wir zuletzt mit Afra Mahnke und Christoph Weigl verstärkt haben. Es gab es viele Gespräche über Titelauswahl und Storyboarding. Der neue weibliche Zugang zu den beiden Fällen bewahrt uns zum Beispiel davor, den Kult um diese Personen einfach nur zu reproduzieren. Wir setzen die Täter nicht auf den Thron, aber es sind natürlich Kriminalfälle, die Spannungsbögen und Fallhöhen brauchen.

 

"Wir bekommen oft noch Ideen, die versuchen, durch die zu kleine Nischen-Tür reinkommen zu wollen"

 

Netflix hatte in Deutschland auch schon Backen, Singen und MakeOver ausprobiert, aber jetzt stehen also Reality, Dokumentation und TrueCrime im Fokus von Non-Fiction?

Grundsätzlich sind wir offen für alles, aber wir reden bei Non-Fiction von einem Genre, das von großen IPs geprägt wird. Gerade im Bereich Reality haben wir inzwischen viele IPs bei Netflix. Unser Katalog wird größer und wir können uns ja sehr genau anschauen, wie die Titel international funktioniert haben, um Potential für den deutschsprachigen Markt zu identifizieren und eine Lokalisierung umzusetzen, wo sie Sinn macht. 

Hat „Queer Eye“ in Deutschland keinen Sinn gemacht? War das nicht Zeitgeist genug?

Natürlich war das total Zeitgeist und ich würde nicht ausschließen, dass es nochmal weitergeht. Aber das war ein Projekt noch vor meiner Zeit und derzeit liegt unsere Priorität woanders.

Eine klassische Quizshow wie sie Prime Video mit „The 1% Club“ in den USA umsetzt, wäre nichts für Sie?

Wir wollen nicht 1:1 fernsehtypische Genres übernehmen und dazu würde ich eine Quizshow zählen. Es müsste auf einem neuen Level sein. Da ist „Squid Game: The Challenge“ sicher ein gutes Beispiel, auch „Physical 100“. Aber kleine Studio-Produktionen sind gerade keine Priorität für uns.

Was ist der größte Mythos, den Sie im Dialog mit Kreativen immer wieder aufklären müssen?

Das ist zunächst einmal ja eine gemeinsame Lernkurve, aber der größte Netflix-Mythos mit dem wir zu kämpfen haben, ist die Annahme „Das macht sonst keiner, deswegen macht ihr das doch“. Wir bekommen oft noch Ideen, die versuchen, durch die zu kleine Nischen-Tür reinkommen zu wollen. Wir sind unverändert mutig und bereit, neue Wege zu gehen, aber es muss populär sein. Wir müssen in der Breite begeistern. Deswegen unsere zwei Ps. 

Frau Schodder, herzlichen Dank für das Gespräch.