I love VideotextAls in der Redaktion die Runde machte, dass der Videotext Geburtstag hat und ein entsprechender anlassbezogener Text her muss, war klar, dass es nur eine Liebeserklärung werden kann. Am heutigen 1. Juni vor genau 30 Jahren schickten ARD und ZDF ihren Textdienst das erste Mal über den Sender. Aktuelle Nachrichten, Wetter, Sport und vor allem die Einschaltquoten lassen sich seitdem abrufen wann immer man mag. Das interaktive Fernsehen wurde geboren. Und wirklich erwachsen geworden ist es seitdem nicht. Wenn man so will, erlebt es gerade höchstens so etwas wie seine Pubertät.

Erst viele Jahre später blätterte ich zum ersten Mal selbst durch die Seiten. Bei Verwandten. In Österreich! Bis zu jenem Zeitpunkt kannte ich nur "Videotext für alle", jene Nummernrevue, in der ARD und ZDF zur Mittagsstunde in der Sendepause ihrem Publikum die Höhepunkte des Videotextangebots zeigten. Vielleicht auch heute noch eine schöne Idee, um das ältere Publikum für das Internet zu begeistern: "Internet für alle" mit den schönsten Seiten von ard.de und zdf.de.
 

 
Zum ersten Mal fiel im Zusammenhang mit dem Videotext in meinem Leben auch der Begriff Decoder. Den brauchte man, den hatten wir nicht. Ich vermutete diesen Decoder in der Fernbedienung. Denn nur mit der konnte man den Videotext bedienen. Heute habe ich einen Decoder neben meinem Fernseher stehen. Der heißt aber jetzt Settop-Box und kann keinen Videotext. Irgendwann soll der dann aber irgendwas anderes können, mit dem ich Zusatzinformationen abrufen kann. Das brauche ich aber nicht, wenn es Videotext gibt. Ab Seite 300 das Fernsehprogramm, ab 200 den Sport und irgendwo im hunderterbereich die Nachrichten.

Heute so frisch wie vor 30 Jahren: Der VideotextDie Faszination für den Videotext liegt neben seinem praktischen Nutzen und seiner Schlichtheit wohl vor allem in seiner Beständigkeit. Wirklich wichtige technische Veränderungen – gar Innovationen – gibt es seit 30 Jahren kaum, die Zugriffsgeschwindigkeit blieb weitgehend konstant und auch die Grafik ist keinerlei Moden unterworfen: Sie sieht seit 30 Jahren aus wie mit Legosteinen zusammengesteckt.

Der Videotext ist der beruhigende Fluchtpunkt am immer schneller werdenden Puls der Fernsehinhalte. Anders als bei anderen interaktiven Medien lässt sich der Prozess des Seitenaufrufs genau verfolgen. Mehr meditative Ruhe als das Verfolgen des Zählerstands oben links bietet nur das Beobachten eines Waschprogramms.

Früher ging der erste Tast (Klick konnte man dazu ja noch nicht sagen) nach der Schule auf Seite 571. Da war der Witz des Tages (jetzt wissen die Kollegen auch, wo ich die herhabe). Auf Seite 572 gab es ein Rätsel. Dafür hatte die Fernbedienung eigens eine Taste mit einem Fragezeichen. Drückte man die, erschien die Auflösung. Ich weiß gar nicht, ob die noch für was Anderes gut war, außer für Seite 572. Heute gibt es an jener Stelle übrigens Kindernachrichten.
 
Lesen Sie auf der folgenden Seite, was es mit der Austastlücke auf sich hat, und wie in den achtziger Jahren die ersten digitalen Sexfantasien aufkamen - und sich zum Teil bis heute hielten.