Verstärkt wird dies durch die Tatsache, dass Medien in Großbritannien sich in der Regel zu großen politischen Themen positionieren und klare Wahlempfehlungen aussprechen. Aus deutscher Sicht ein ungewohnt meinungsfreudiger Journalismus, während wir verpackt in der schönen Theorie des objektiven Journalismus herauslesen können bzw. müssen, wenn sich Redaktionen in Deutschland natürlich auch mehr oder weniger klar positionieren. Offensive Haltung wie der „Spiegel“ vergangene Woche mit seinem Bekenntnis zu Großbritannien auf dem Cover demonstriert hat, ist selten. Dittert aus der Londoner Perspektive: „Das ist hier nicht so breit wahrgenommen, wie der ‚Spiegel‘ es vielleicht gehofft hat, aber ich fand es war eine schöne Idee.“

Bevorzugt sie denn bezogen auf Haltung und Wahlempfehlung von Medien das britische oder deutsche Modell, will ich wissen. „Eine schwierige Frage. Ich finde, dass eine Zeitung sich schon bekennen kann, solange das nicht dazu führt, dass auch die rein nachrichtliche Berichterstattung davon durchtränkt wird. Wenn das auf der Ebene der Kommentare und Leitartikel passiert, kann man das machen. Aber bei den meisten britischen Zeitungen geht das munter durcheinander, da prangt die Meinung dick auf der Titelseite erreicht.“

Ein ganzer Stapel an Zeitungen liegt auf dem Boden vor uns. Die Schlagzeilen schreien uns an. Immerhin: „Es gibt immer noch sehr gute Zeitungen, allen voran die ‚Financial Times‘, die allerdings wie alle Medien, die wissen worum es geht, auf Seiten des Remain-Lagers sind. Der ‚Economist‘ hat auch sehr gute lange Hintergrundartikel geschrieben und am Wochenende hat Murdochs’ ‚Times‘ erstaunlicherweise getitelt ‚Why remain is best for britain‘ - kurz bevor dann allerdings die Sunday Times allerdings genau die gegenteilige Haltung propagiert hat. Und die „Sun“ ja sowieso.“ Dittert analysiert beinahe belustigt davon: „Murdoch hält es sich offenbar offen.“

Annette Dittert© Dittert


Hat der Anschlag auf Cox das Land denn kurzzeitig zum Nachdenken gebracht? Ja, sagt die London- und England-L. „Es soll jetzt nicht zynisch klingen, aber diese letzte Woche ist jetzt deutlich ruhiger als sie geworden wäre, wenn es das tragische Attentat nicht gegeben hätte. Das Land war schockiert. Und viele habe verstanden, dass dieses Attentat nicht kontextlos, sondern aus einer Atmosphäre des Hasses bei dieser emotional aufgeheizten Kampagne geschah. Viele Briten haben sich regelrecht erschrocken, und plötzlich realisiert, in was sie da hineingeraten sind und ich glaube, dass die letzten Tage vor dem Referendum jetzt davon geprägt werden sein. Dass das jetzt ruhiger und sachlicher wird, was sicher eher dem ‚Remain-Lager‘ nützen wird.“

Auf dem kleinen Tischchen zwischen uns winkt solarbetriebene eine Plastik-Queen munter vor sich hin. Was das Staatsoberhaupt über die vielleicht wichtigste Entscheidung ihres Volkes in dieser Generation denkt? Wir wissen es nicht. Die Monarchie hält sich aus der aktuellen Politik heraus. Oder hören wir in letzter Minute doch ein Plädoyer von Queen Elizabeth? „Never ever“, entgegnet Dittert entschlossen. „Die ‚Sun‘ hat ja vor einigen Wochen einfach behauptet, die Queen sei für den Brexit und das wurde vom Königshaus auf das Allerschärfste dementiert. Die Queen wird sich nicht dazu äußern. Vor zwei Jahren wurde ihr beim schottischen Referendum schon die Äußerung, dass ihr die Schotten sehr am Herzen liegen würden, sehr übel genommen. In dieser aufgehitzten Diskussion halte ich es für ausgeschlossen, dass sie sich zu Wort meldet.“

"Viele werden für den Brexit stimmen, wollen aber eigentlich Cameron und seinen Konservativen einen Denkzettel verpassen."

Vielleicht war meine Frage auch viel zu naiv. Wir sprechen darüber, was die Deutschen darüber hinaus selten verstehen, wenn es um Großbritannien und sein Verhältnis zur EU geht. Dittert: „Was generell fehlt in Deutschland ist das tiefere Verständnis für die Abneigung der Briten gegen die Europäische Union. Das hat viel damit zu tun wie spät die Briten der EU erst beigetreten sind und dass sie die Erfahrung der Gründungsphase der EU nicht mit erlebt haben. Das war ja eine positive Phase, als es wieder aufwärts ging in Kontinentaleuropa. Als das Wirtschaftswunder geboren wurde. In dieser Zeit aber blieben die Briten außen vor. Die Franzosen lehnten ihren Antrag auf Mitgliedschaft in den 60er Jahren gleich zweimal ab. Die Briten durften dann erst nachdem de Gaulle sich von der politischen Bühne zurückzog, 1972 im dritten Anlauf beitreten. Diese Ablehnung und die sehr späte Aufnahme in den Club - das war eine unglaubliche Demütigung und das sitzt tief in der englischen Seele. Das erklärt die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Institution.“

Die naheliegendste Frage kommt am Ende. Aber wie wird nun das Referendum ausgehen? „Wenn ich das beantworten könnte, säße ich nicht hier auf dem Boot“, sagt  Annette Dittert und kann lachen. Ernsthaft fährt sie fort: „Ich hoffe, mehr als ich glaube, dass es am Ende doch eine Mehrheit für Remain gibt. Die Briten sind eigentlich so pragmatisch und es gibt wirklich keine einzige seriöse Studie, die sachliche Argumente für einen Austritt liefert. Alle, wirklich alle Experten warnen vor den negativen Folgen eines solchen Abenteuers. Viele suchen die Schuld bei der EU, meinen aber die aktuelle Regierung. Viele werden für den Brexit stimmen, wollen aber eigentlich Cameron und seinen Konservativen einen Denkzettel verpassen. Die Ironie dabei ist aber, dass ein Brexit sie mit genau jenen alleine lässt, den rechten Konservativen, die ihnen im Land die wirklichen Probleme beschert haben.“ Ironie über die man nur bedingt schmunzeln kann in einer Woche, in der es für Großbritannien und die EU um sehr viel geht.