Kreuze verkörpern vielschichtige, vielgesichtige, vielsagende Zeichen. Auf Wahlzetteln sind sie eher demokratisch, mit Haken stets totalitär, bei Autobahnen wirken sie stauverstärkend, in Kirchen erbaulich und davor mitunter so sperrig und schwer, dass es für Jesus alleine untragbar wäre. Von wegen "jeder nur ein Kreuz", wie Monty Pythons Michael Palin einst im blasphemischsten Passionsspiel aller Zeiten säuselte: Ein Modell, das RTL gestern Abend durch halb Kassel transportieren ließ, wog satte 230 Kilo, musste also von 18 Personen geschleppt werden.

Und DWDL mittendrin!

Die Passion © DWDL.de DWDL.de-Autor Jan Freitag mit RTL-Kreuz im Hintergrund
Zum zweiten Mal bereits nach 2022 setzt Constantin Entertainment eine zwölfjährige Tradition der niederländischen Produktionsfirma Mediawater fort, die letzten Tage im Leben Christi als modernes Musical aufzuführen. Mit Stars und Sternchen hauseigener Promikaderschmieden. Mit dem Sänger Ben Blümel als Jesus und Jimi Blue Ochsenknecht als Judas. Mit Hannes Jaenicke als Bühnensprecher und Angela Finger-Erben als Fieldreporterin. Vor allem aber: Mit 600 Freiwilligen, die ein Teil des Live-Spektakels live auf die Straße bringen.

Während 250 Crew-Mitglieder auf dem Friedrichsplatz zwischen Einkaufsstraße und Säulenbarock noch letzte Hand an 75 Tonnen Hightech legen, versammeln sich 45 Gehminuten östlich davon all jene im prächtigen Kongress-Palais, die der offiziellen Prozession zwei Stunden später buchstäblich Leben einhauchen.

Man kann nämlich bestens darüber streiten, wie aufrichtig es wohl ist, wenn RTL-Entwickler Kai Sturm das aufgeblasene LED-Gewitter in den Kontext "bedingungsloser Liebe" statt "werbewirksamer Quoten" stellt und allen Ernstes behauptet, mit der Passion zeige sein Arbeitgeber "Haltung und dass es sich lohnt, gemeinsam füreinander einzustehen". Ob es ihm echt um "Respekt und Liebe für den Nächsten" geht, wovon hier ständig die Rede ist? Wer’s glaubt, wird selig…

"Beste Verbindung aus Spiritualität und Entertainment"

Nur: wo das Feuilleton PR-Phrasen vermutet, glauben die Komparsen mehrheitlich an RTLs Aufrichtigkeit. Von der katholischen Kirche zur hochoffiziellen Osterveranstaltung erklärt, laufen sie alle schließlich umsonst, nicht vergebens mit, um hautnah zu spüren, was der Kreuzträger Jonas "die beste Verbindung aus Spiritualität und Entertainment" nennt. Das betriebswirtschaftliche RTL-Kalkül mag also dringlicher sein als das religiöse, findet auch die 19-jährige Religionsstudentin Ronja. "Aber man darf auch aus niederen Beweggründen Gutes tun."

Und das, darüber herrscht vor, auf, nach dem Prozessionszug irritierende Einigkeit unter den Teilnehmenden, "bringt wirklich Liebe und Hoffnung in die Welt", wie der Pastorensohn Nathaniel mehr beschwört als beteuert. Große Show! Größere Worte!! Größtmögliche Verblendung also?! Es ist schon bemerkenswert, welche Energie der zweistündige Marsch durch die nasskalte Kasseler Nacht erzeugt.

Als auf dem Friedrichsplatz vor mehreren Tausend Zuschauern die Show mit Riesenband, Engelschor und 860 Scheinwerfern beginnt, setzt sich auch das Plexiglaskreuz in Bewegung und siehe da: So laut No Angel Nadja Benaissa als Muttergottes Maria rund drei Kilometer östlich auch ölige Popsongs in den Nachthimmel scheppert – im Prozessionszug kehrt Ruhe ein. Innere Ruhe. Aber auch äußere.

Die Passion © RTL / Stefan Gregorowius Die "Passion"-Bühne in Kassel

Die niederländischen Regisseure sind zwar lautstark damit beschäftigt, das Tempo mal hoch mal niedrig genug für den strikten Zeitplan zu halten. Aber auch den atheistischen Autor dieser Reportage durchströmt etwas Warmes, Wohliges, Gemeinschaftliches, als er das Kreuz an Position 5 links vorne vorm Querbalken kurz durch den Dauerregen trägt, derweil der Pulk dahinter ohne Anleitung leise Erbauungslieder mit Halleluja und Lord singt. Echt besinnlich. Einerseits.

Denn andererseits löst sich alle Spiritualität ein wenig in Realismus auf, je näher man 22 Jahre nach Ben Blümels Superhit "Engel" seinem "Jesus" kommt. Auf der Bühne dürften die zwölf Jünger 3.0 um B- bis C-Promis wie Joey Heindle, Larissa Marolt, Mola Adibesi und Stefanie Hertel gerade das letzte Abendmahl abhalten, als Frau Finger-Erben im Gehen eines ihrer gescripteten "Interviews" über religiöse Erweckungserlebnisse vorab gecasteter Kreuzträgerinnen führt – das erdet die himmlische Veranstaltung ungemein.

Erst Frauke Ludowig, dann das Kreuz

Und gerade lässt Francis Fulton-Smith seinen Pontius Pilatus im gut gefüllten Zweiteiler den Friedrichplatz für Ralf Richters Bösewicht Barabbas abstimmen, da erreicht das Kreuz die Bühne – muss aber noch kurz auf die Werbepause warten, in der Frauke Ludowig ihr Passions-Spezial im Anschluss bewirbt. Jesus Blümel darf noch mal irgendwas Wuchtiges voller Love & Pain mit Petrus Timur Ülker ("GZSZ") schmachten, da bahnt sich die Prozession den Weg durch die Menge – und Zack! Ist das zweite Passionsspiel von RTL auch schon vorbei.

Übrigens ohne, dass dem Kreuz größere Bedeutung zukäme. Von Kreuzigung ganz zu schweigen, die uns RTL in Zeiten brutaler Krisen Pontius Pilatus zufolge ersparen will. Viel Lärm um nichts also? Nicht ganz! Denn die Einschaltquote lag zwar unter den drei Millionen von 2022. Wichtiger war aber ohnehin, was die Veranstaltung den Menschen vor Ort und am Fernseher, aber auch fürs Fernsehen generell bedeutet.

In einer Passion wie dieser nämlich, mit ihrer demütigen Profitorientierung oder umgekehrt, mit falschem Pomp und echter Religiosität, mit Cameos von Reiner Calmund und Jenny Elvers plus Choreos von technischer Perfektion und inhaltlicher Stringenz, versöhnt RTL vielleicht wirklich E(rnst) mit U(nterhaltung) und bringt "Licht nach Deutschland". Zumindest in einem 230 Kilogramm schweren Plastikkreuz auf dem beschwerlich besinnlichen Weg durch die Kasseler Innenstadt.