Offenlegung: Der folgende Artikel ist unter Einfluss mehrerer Gläser Sekt, Ouzo sowie Southern Comfort & Ginger Ale entstanden.

Wer hin und wieder Talkshows wie jene mit Markus Lanz einschaltet, der kennt das Dilemma nur allzu gut: Die Stars geben sich die Klinke in die Hand - doch wirklich Neues erfährt der geneigte Zuschauer nicht. Und Platz für Unvorhergesehenes besteht ohnehin nicht: Da sitzt der Schauspieler, der nur deshalb zugesagt hat, weil er seinen neuen Film bewerben kann, neben einem Comedian, der vermeintlich spontan ein paar lustige Szenen aus seinem aktuellen Bühnenprogramm herunterrattert. Und dazwischen darf meist ein Politiker auf ein, zwei vordergründig investigative Fragen mit derart harmlosen Sätzchen antwortern, dass das gemeine Wahlvolk gleichermaßen beruhigt wie beseelt zur Nachtruhe übergehen kann.

Vielen Dank, auf Wiedersehen. So einfach lässt sich Sendezeit füllen. Die "Zeit" hat kürzlich sehr treffend beschrieben, nach welchen Kriterien die Gästelisten für die "NDR Talk Show" zusammengesetzt werden. Verglichen wurde sie - nicht ganz unpassend - mit einem Puppenspiel. Sonya Kraus gab darin die Prinzessin, Desirée Nick das Krokodil und ein Komiker den Rausschmeißer - garniert von einem Hauch bekannter Nasen, damit das Publikum bloß nicht abschaltet. Es ist ein Plan, der seit Jahren aufgeht und für hohe Quoten sorgt. Wer jedoch das Überraschende, das Unerwartete, sucht, ist bei der "NDR Talk Show" ebenso falsch wie bei "Markus Lanz". Die Macher solcher Sendungen haben längst ein Patentrezept gefunden, um die Zuschauer mit einer vermeintlich brisanten Gästemischung bei Laune zu halten. Für einen wie Kinski, der einst polternd auf seinem Sessel wütete, wäre im Jahr 2015, inmitten derart kalkulierter Explosivität, gewiss kein Platz.

Insofern verwundert es nicht, dass Hugo Egon Balder jahrelang erfolglos versuchte, der Fernsehwelt eine Talkshow anzudrehen, in der die Gäste bereits betrunken sind, bevor das Rotlicht überhaupt angeht. In einer Zeit, in der es schon als frecht gilt, wenn ein halb-italienischer "Tagesthemen"-Moderator in der Halbzeit-Pause eines Fußballspiels zwischen Deutschland und Italien erklärt, innerlich zerrissen zu sein, ist es schon mutig, jemanden wie Hella von Sinnen mit mehr als einem Promille auf Sendung gehen zu lassen, um in gut einer Stunde über Gott, einen Flugzeugabsturz und Propellor-Penisse zu sprechen. So geschehen am Montagabend bei Tele 5. Da saß Hella von Sinnen tatsächlich angetrunken inmitten einer Runde, der auch Comedian Ingmar Stadelmann, "Sexpertin" Paula Lambert und Schlagersänger Bernhard Brink angehörten.

Ob das alleine schon das Zeug besitzt, um als großes Fernsehen durchzugehen, möge jeder selbst beurteilen. Zumindest aber wehte in den knapp 75 Minuten, die den mit der Zeit sichtlich beschwipsten Talk-Gästen des (nüchternen) Moderators Wigald Boning in der Premiere der Tele-5-Show "Der Klügere kippt nach" zur Verfügung standen, jener Hauch von Anarchie durchs deutsche Fernsehen, der ihm in den vergangenen Jahren zunehmend verloren gegangen ist. Natürlich war es zumeist nicht sonderlich erhellend, was Hella von Sinnen und ihre Mitstreiter in einer gut besuchten Kneipe auf der Reeperbahn von sich gaben. Nur: Ist der Erkenntnisgewinn bei Lanz und den nüchternen Konsorten wirklich höher? Es gehört inzwischen eben etwas dazu, quasi ohne Netz und doppelten Boden auf Sendung zu gehen.

"Jetzt ist meine Mutter weg", gab Schlagersänger Brink nach wenigen Minuten zu Protokoll. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hella von Sinnen bereits einen Teil ihrer sexuellen Fantasien zum Besten gegeben. Wenig später brachte sie gar kurzzeitig sogar die Theodizee-Frage auf den Plan, also die Frage, warum Gott das Leiden in der Welt zulässt, wo er es vermeintlich allmächiger Herrscher doch eigentlich verhindern könnte. "Haltet mir den Gott da raus!", schrie von Sinnen, als vorübergehend der Absturz einer Germanwings-Maschine auf die Agenda genommen wurde. "Jeder ist für sich verantwortlich!" Wenig später versuchte sich Bernhard Brink an einer Parodie von Helmut Kohl ("Wehner kann ich nicht, aber Boris Becker.") und Ingmar Stadelmann musste aushalten, wie Hella von Sinnen urpötzlich seine Brust berührte.

Natürlich spielte auch Pegida eine Rolle, und auch für Griechenland war Platz - ganz so, wie man es - Land auf, Land ab - tausendfach an deutschen Stammtischen erleben kann. Die Themenspanne hätte also kaum größer sein können. Wer politische Korrektheit erwartete, war hier ganz sicher falsch. Doch in einer Fernsehwelt, in der jede Aussage inzwischen penibel auf die Goldwaage gelegt wird, tut es eben durchaus gut, wenn zur Abwechslung mal so manche Regel gebrochen wird. Dafür war in der ersten Ausgabe von "Der Klügere kippt nach" natürlich vor allem Hella von Sinnen zuständig, die dankenswerterweise auch freimütig zugab, wenn ihr ein Thema mal gar nicht schmeckte. "Das interessiert mich überhaupt nicht", schimpfte sie etwa, als die möglicherweise neu entfachte Liebe zwischen Matthias Reim und Michelle im Mitelpunkt der Diskussion stand

Von Sinnen war es letztlich, die die erste Ausgabe prägte - auch, weil sich Brink & Co. zunächst schwer damit taten, ihre Meinung kundzutun. Weil Hella von Sinnen mit der Zeit jeden noch so unwichtigen Gedanken herausschrie, wurde es mit der Zeit immer lauter auf St. Pauli. Da konnte nicht mal Hugo Egon Balder etwas ausrichten, der sich als Kneipenwirt bloß mit einer Nebenrolle begnügte. "Darf ich ernsthaft sprechen, alter Mann, oder ist das nicht das Konzept der Sendung", fragte eine sichtlich angeheiterte Hella von Sinnen ihren langjährigen Kollegen, der dann aber doch noch für eine Zote gut war, nachdem von Sinnen inmitten einer Diskussion plötzlich etwas von der Mittelmeer-Insel Lesbos faselte. "Ich war ja mal auf Martinique", erzählte Balder freimütig und ergänzte schelmisch: "Das ist die kleine Schwarze aus der Buchhaltug".

Man konnte förmlich spüren, wie Stammzuschauer der "NDR Talk Show" schon nach wenigen Minuten angewidert zur Fernbedienung griffen, in der Hoffnung, auf irgendeinem Sender die Spießigkeit einer gewöhnlichen "Markus Lanz"-Ausgabe zu finden. Aber an dieses Publikum richtet sich diese in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Sendung ohnehin nicht. Ärgerlicher war da schon, dass Moderator Wigald Boning in der Premieren-Sendung mitunter das Gespür für Timing abhanden kam. Anstelle die zunehmend redselige Runde einfach mal reden zu lassen, schien es ihm ein echtes Bedürfnis zu sein, in wildem Galopp durch eine kaum zu überschauende Themenplatte zu reiten. Dadurch war es leider auch nicht möglich, so etwas wie Tiefgang zu entwickeln, sofern das nach dem Genuss von sechs Gläsern Bier überhaupt möglich gewesen wäre.

Mit Blick auf die Themen wäre weniger also ganz sicher mehr gewesen. Ob das auch für den Alkohol gilt, sei mal dahingestellt. Gut möglich jedenfalls, dass der Unterhaltungswert am Ostermontag nicht unwesentlich von der Alkoholzufuhr auf dem Sofa abhängig war. Wer der Tele-5-Runde nüchtern folgte, wird vermutlich deutlich weniger Spaß gehabt haben, was "Der Klügere kippt nach" letztlich wohl auch am ehesten vom ebenfalls meist feuch-fröhlichen ARD-Talk "Inas Nacht" unterscheidet, der stets auch ohne den Griff zur Flasche zu gefallen weiß. Im Falle des neuen Promille-Talks könnte das übrigens noch zum echten Problem werden, denn so recht will sich der Montagabend nämlich nicht zum leicht angeheiterten Fernsehabend eignen. Aber das nur nebenbei.

Ach ja: Falls Sie jetzt ein rundes Ende dieses Artikels erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. In Anlehnung an die Sendung ist nun einfach Schluss. Fernsehen kann manchmal so herrlich unkompliziert sein. Wenn man es denn lässt.