Noch vor wenigen Jahren wäre es in Frankreich wohl als Sakrileg empfunden worden, wenn die Chefin einer heimischen Produktionsfirma ausgerechnet die Bühne im Festivalpalais von Cannes genutzt hätte, um einen Strategieschwenk hin zu englischsprachigen Filmen zu verkünden. Im Zeitalter aggressiv expandierender, Private-Equity-finanzierter Content-Konzerne fällt die Aufregung dagegen nicht mehr halb so groß aus.
Elisabeth d'Arvieu, die Chefin von Mediawan Pictures, bekräftigte auf der MIPCOM, was sich ohnehin schon abzeichnete: London soll der neue Schwerpunkt aller internationalen Vertriebsaktivitäten der Mediawan-Gruppe werden. Wenige Tage vor Messebeginn hatte das Studio bereits mitgeteilt, dass Mediawan Rights seinen Hauptsitz von Paris in die britische Hauptstadt verlegt und dort die ehemalige All3Media-International-Managerin Sally Habbershaw als Chief Distribution Officer die Leitung übernimmt.
"Wir wollen generell unsere englischsprachigen Inhalte ausbauen", erklärte d'Arvieu die anstehenden Veränderungen. "Innerhalb von vier Jahren sind wir eine Partnerschaft mit Drama Republic, eine Partnerschaft mit See-Saw eingegangen und haben Plan B in Europa gegründet. Englischsprachige Inhalte und internationale Inhalte im Allgemeinen werden also immer wichtiger." Habbershaw werde mit ihrer US-Erfahrung dabei helfen, hier nun "wirklich Gas zu geben". In der neu geschaffenen Funktion soll sie den Ausbau eines englischsprachigen Serien- und Filmslates beschleunigen und zusätzliche internationale Partnerschaften erschließen. Die langjährige Geschäftsführerin von Mediawan Rights, Valérie Vleeschhouwer, wird nach einer Übergangsphase verabschiedet.
Erst im September war bekannt geworden, dass die von Brad Pitt gegründete US-Produktionsfirma Plan B Entertainment, an der Mediawan seit drei Jahren die Mehrheit hält, ein Londoner Büro eröffnet und für dessen Leitung den "Baby Reindeer"-Produzenten Ed Macdonald gewonnen hat. Mit der Ausnahmeserie "Adolescence" für Netflix und dem Rennsport-Drama "F1: The Movie", dem bislang umsatzstärksten Kinofilm von Apple TV, hat Plan B dieses Jahr kulturelle wie kommerzielle Highlights geliefert. "Wir sind ein europäisches Studio und bleiben ein europäisches Studio – aber wir hatten das Bedürfnis, uns in den USA zu etablieren", so d'Arvieu auf der Bühne in Cannes. "Wir wollten von Auftraggebern und Kunden wahrgenommen werden. Wir wollten auch das Versprechen einlösen, das wir unseren europäischen Talenten gegeben haben, ihnen eine angemessene internationale Präsenz zu verschaffen."
Umsatz 2024: ca. 1,4 Milliarden Euro Gesellschafter: TopCo Breteuil (Pierre-Antoine Capton, Xavier Niel, Matthieu Pigasse / 50,01%), Show TopCo (KKR / 41,5%) Vorstand: Pierre-Antoine Capton (CEO), Delphine Cazaux (COO), Guillaume Izabel (CFO) Produktionsfirmen: Atlantique Productions, Beetz Brothers, Chapter 2, Chi-Fou-Mi Productions, DEMD Production, Drama Republic, Good Mood, i&u TV, Mediawan Kids & Family, Misfits Entertainment, Mon Voisin Productions, Odeon Fiction, Our Films, Palomar, Plan B Entertainment, SEO Entertainment, Storia Television, W&B Television, Wiedemann & Berg FilmMediawan auf einen Blick
Bei Mediawan sei man frustriert gewesen, dass die eigenen IPs im US-Markt ausgebeutet wurden – "aber nicht von uns". Das dürfte so schnell nicht mehr vorkommen: Plan B arbeitet etwa mit der deutschen Konzernschwester Wiedemann & Berg Film an einem US-Remake der "Wochenendrebellen" (DWDL.de berichtete), an einer US-Version des Mediawan-Hitformats "Call My Agent!", das in der Sportwelt angesiedelt werden soll, oder mit der französischen "Call My Agent!"-Showrunnerin Fanny Herrero an einer Serienverfilmung des Romans "The Man with a Thousand Faces".
Die von CEO Pierre-Antoine Capton geführte Mediawan-Gruppe, die voriges Jahr die deutschen Leonine Studios vollständig übernommen hatte, baut ihre Stellung damit zielsicher aus. Die Strategie ist klar: Je weitreichender das Netzwerk und je umfangreicher die Produktionspipeline, desto eher entstehen Skalenvorteile für Vertrieb und Rechtehandel, die einen gewissen Hebel gegenüber den amerikanischen Streaming-Giganten ermöglichen. Während Plan B aufgrund des Hollywood-Glamours stets ein bisschen herausragt, ist die im März vollzogene 51-Prozent-Beteiligung an der britisch-australischen See-Saw Films ebenso bedeutsam. Das Team um Emile Sherman und Iain Canning zählt mit Serien wie "Slow Horses" (Apple TV) oder "Apple Cider Vinegar" (Netflix) zu den Top-Lieferanten der Streamer.
Dreht man die Perspektive um, ist das Mediawan-Modell attraktiv für Kreativschmieden mit Profil, die weitgehende inhaltliche Unabhängigkeit bei gleichzeitigem finanziellen Rückhalt wünschen. Im Rahmen ihrer Multi-Label-Plattformstrategie – und ausgestattet mit Kapital von KKR – sorgen die Franzosen für zentrale Funktionen wie Projektfinanzierung, Rechteverwaltung oder internationalen Vertrieb. Freilich nimmt zwangsläufig auch der Fokus auf Cashflow und Profitabilität zu. Mediawan operiere mit deutlich strengerem Blick auf die Rendite als viele traditionelle europäische Medienhäuser, stellte die "Financial Times" fest. Das schnelle Expansionstempo, das äußerst heterogene Produktionskulturen zusammenführt, erfordert außerdem eine ständige Integrationsleistung, um Doppelstrukturen und Extrakosten zu vermeiden.
Die Finanzanalysten von Fitch Ratings prognostizieren für Mediawan bis 2028 ein durchschnittliches jährliches Umsatzplus von acht Prozent. Die EBITDA-Marge, die 2024 bei 11,5 Prozent lag, werde dieses Jahr leicht auf 11,4 Prozent sinken und sich in der Folge bei 11,2 Prozent stabilisieren. Nach einem negativen freien Cashflow im laufenden Jahr erwartet Fitch für 2026 einen positiven Wert sowie mittelfristig eine Stabilisierung, da die Erweiterung der Rechtebibliothek die derzeitige starke Abhängigkeit von der Produktion verringern werde. "Die Diversifizierung des Kundenkreises hält sich nach wie vor in Grenzen", kritisiert die jüngste Analyse. "Die zehn größten Kunden machen etwa 60 Prozent des Umsatzes aus."
Dass Mediawan auch daran arbeitet, konnte man Elisabeth d'Arvieus Ankündigungen auf der MIPCOM entnehmen. Diversifizierung sei der Schlüssel, so die enge Capton-Vertraute, die als Beispiele "Call My Agent!" und die Zeichentrickserie "Miraculous" nannte. Hier müsse man "das volle Potenzial ausschöpfen", was etwa Musicals, Live-Erlebnisse oder Konsumgüter umfassen könne. Zudem habe sie vor, Luxusmarken und Sportartikelhersteller als neuen Kundenkreis zu erschließen. "Ich spreche nicht von Produktplatzierung", so d'Arvieu. "Ich spreche davon, Geschichten für sie zu erzählen und ihr Publikum auf eine andere Art und Weise zu erreichen."
Europas Studios im Umbruch – bisher erschienen