Während selbst Produktionshäuser wie Endemol Shine und Fremantle Media, die in den vergangenen 15 Jahren vorwiegend mit ihrer non-fiktionaler Unterhaltung den Weltmarkt eroberten, ihren Fokus mehr oder weniger in Richtung fiktionaler Erzählungen verschieben, will İzzet Pinto die Suche nach dem nächsten non-fiktionalen Hit schon bei der Ankunft der MIPTV-Besucher am Flughafen in Nizza beenden, wo Hostessen erste Flyer verteilen. "Seit Jahren suchen alle nach dem nächsten großen Hit-Format", sagt Pinto und fügt mit branchenbekanntem Selbstbewusstsein hinzu: "'The Legend' ist genau das."

Ihm wäre es eine diebische Freude mit seiner in der Türkei aufgebauten Global Agency als vergleichsweise immer noch kleinem Produktions- und Distributionshaus den großen Rivalen eine lange Nase zu zeigen. Doch trotz neuer, nicht ganz ausgereifter Twists bleibt "The Legend" eine Castingshow und die Überpräsenz von Pintos PR verzweifelt. Bis "Rising Star" hatten sicher noch mehr Sender auf die nächste Casting-Innovation wie einst "The Voice" gehofft. Doch inzwischen leidet das einst so sichere und von den Sendern gerade deswegen geliebte Genre leidet unter Ermüdungserscheinungen.



Außer İzzet Pinto ist diesmal jedoch kaum jemand überzeugt, den nächsten Format-Hit in Cannes zu entdecken. Dabei war das Interesse am noch recht jungen Veranstaltungsteil MIPformats, der sich genau damit beschäftigt, am Wochenende so groß wie noch nie: Am Samstag und Sonntag gab es die Gelegenheit intensiv zu recherchieren, was sich mancher Messebesucher am Montagmittag von der Marktforschungsagentur The Wit bequem in komprimierter Form servieren ließ. Überhaupt: Mit den erstmals veranstalteten MIP Drama Screenings sowie MIPdoc für Factual Entertainment war selten mehr los in Cannes vor dem eigentlichen Messestart. Die MIPTV selbst ist jedoch ruhig. Nicht spürbar leerer wie in den Vorjahren aber es mangelt an großen Hit-Formaten über die gesprochen wird.

Nach vier Tagen der Screenings, Analysen der Programmkataloge, Präsentationen und Pressegesprächen ist aus DWDL.de-Sicht kein Format hervorzuheben wie zuletzt die kurzzeitig gehypten Formate „Utopia“ oder „Rising Star“. Aber in der Masse der angebotenen Produktionen stechen dennoch drei inhaltliche Trends heraus. Drei Genres, die nicht nur auf dem Weltmarkt zu beobachten sind - wo es u.U. sogar noch mehr gäbe - sondern auch in Deutschland funktionieren können. Mit Gameshows und Reality-TV beispielsweise tut sich der deutsche Markt bekanntlich schwerer als manch anderer. Es geht um True Crime, Emotainment und Physical Entertainment.

True Crime: Die ganze Branche hat Netflix geschaut

Drei Begriffe, die sich nicht zwingend selbst erklären. Wer jedoch bei Netflix die Doku-Serie "Making a murderer" gesehen hat und aus deutscher Sicht dann noch die Spitzenquoten des verjüngten ZDF-Klassikers "Aktenzeichen XY" berücksichtigt, kann die Lust auf True Crime-Formate sehr gut nachvollziehen. Im Rahmen der MIPdoc wurden zahlreiche Einzelstücke aber auch serielle Formate präsentiert. Zu den prominentesten Vertretern gehört Talpa Global mit „The Innocence Project“. Hier spürt man sehr deutlich den Wunsch, auf den „Making a murderer“-Zug aufspringen zu wollen.

Manchen Dokumenterfilmer gruselte jedoch an den beiden Tagen der MIPdoc das Verlangen einiger Produktionsfirmen, den Netflix-Erfolg kopieren zu wollen. Seit Jahren schon wird schließlich leidenschaftlich diskutiert, wie viel Storytelling das Dokumentarische verträgt. Bei True Crime bzw. dem in Cannes immer und immer wieder konkret gehörten Beispiel "Making a murderer" bestehe noch dazu die Gefahr, dass der Wunsch nach süffigem Storytelling manche Ungereimtheit glattgebügelt wird. Oder, wie TV-Produzentin Mok Choy Li aus Singapur es auf der Bühne der MIPdoc formuliert: Die Emotionalisierung sei leider besonders dann erfolgreich, wenn man sich auf eine Seite schlägt. Das vertrage sich nur bedingt mit dokumentarischem Anspruch.

Emotainment: Einfach nette, bewegende Unterhaltung

Mit Emotainment hält bei der MIPTV 2016 ein Trend an, den DWDL.de schon im vergangenen Jahr ausgemacht und beschrieben hat. Die Wortschöpfung erklärt sich - wenig überraschend - als emotionales Entertainment. Gemeint sind unterhaltende Sendungen ohne Wettbewerb. Also weder Gameshows, noch Castingshows. Überzeugender Vertreter dieses Trends ist beispielsweise „This time next year“ der britischen Produktionsfirma Two Four, das in UK für ITV in Produktion ist. Die Studioshow erzählt von Menschen, die im kommenden Jahr ihr Leben verändern wollen - auf unterschiedlichste Arten. Das Besondere: Sie verlassen das Studio durch die „This time“-Tür und werden in der ausgestrahlten Sendung nur Sekunden später durch die „Next year“-Tür wiederkehren und von ihren Erfahrungen der vergangenen 12 Monate erzählen.

Emotainment geht ans Herz und sorgt in Zeiten von negativen Schlagzeilen aus aller Welt für Eskapismus. Fremantle Media spielt in seinem Trailer für das kleine charmante „My first holiday“ sogar mit dem Vorwurf, dass es „einfach nur nettes Fernsehen“ sei. „Bräuchten wir alle nicht manchmal einfach etwas Nettes?“ Viele Formate dieses Genres spiegeln das normale Leben ohne die vom Reality TV zuletzt so oft provozierte Eskalation. Natürlich mangelt es auch in Cannes nicht an teilweise absurden Reality Challenges. Aus deutscher Perspektive sind die meisten dieser Formate jedoch nicht zu gebrauchen. Der Geschmack des deutschen Publikums variiert in diesem Punkt vom internationalen Angebot.

Physical Entertainment: Nicht neu, aber im Trend

Dafür gehört "Physical Entertainment“ zu den Genres der Stunde – Unterhaltungsformate also, in denen die Teilnehmer ihre körperlichen Grenzen ausloten. Schon bei der MIPformats am Wochenende war das Genre allgegenwärtig. Mit “Ninja Warriors“ (RTL) und "Real Men" (Vox) kommen zwei in Cannes gehandelte Formate in den kommenden Monaten auch nach Deutschland. Während "Ninja Warrior" mit seinem Action-Parcours ein Stück weit in der Tradition von "Takeshi's Castle" steht, setzt der von Red Arrow vertriebene Hit aus Dänemark auf gesellige Typen mit "Hüftgold überm Sixpack", wie Vox es beschrieb, als man die deutsche Adaption der Show ankündigte.

"Real Men" begleitet diese Männer auf ihrem Weg hin zum Cross-Triathlon und dokumentiert, wie sie sich über einen Zeitraum von fünf Monaten mit der Unterstützung ihrer Familien und Kollegen darauf vorbereiten und dabei ein Stück weit ihr Leben verändern. Es geht um die Heldenreise, gar nicht so sehr um den Gewinner. Bei „Ninja Warrior“ gibt es nicht mal zwingend einen Gewinner - je nachdem wie gut oder schlecht sich die Kandidaten auf dem Parcour anstellen. "Es geht nicht ums Siegen oder Verlieren, sondern ums Teilnehmen", erklärte Makito Sugiyama von Tokyo Entertainment in Cannes.

Im Sommer wird man dann sehen können, ob dieses Konzept auf beim RTL-Publikum Anklang findet. Es gibt auch weitere Vertreter dieses Trend-Genres, etwa „Strong“. Das von Sony Pictures Television für den US-Markt entwickelte Format konzentriert sich auf den Wettkampf von zehn Frauen, denen zehn männliche Fitnesscoaches an die Seite gestellt werden. In diversen Wettkämpfen treten die Trainingsteams gegeneinander an - ein sehr testosterongesteuertes Format, in denen starke Männer den pummeligen Frauen die Richtung vorgeben sollen. Fernsehen für ein Gesellschaftsbild, von dem Donald Trump träumen würde.

Die genannten Formate sind nicht zwingend herausragende Produktionen ihres Bereichs, aber gute Beispiele für in der Häufigkeit auffallende Genres der diesjährigen MIPTV, die so gesehen zwar arm an wirklichen Format-Highlights aber spannend in Bezug auf die Genre-Beobachtung war. Bei der nächsten MIPformats im kommenden Frühjahr könnte sich der Blick auf die Genre-Vielfalt übrigens erweitert haben: Durch die Ankündigung von RTLplus Gameshow-Klassiker zurückzuholen und die von der ARD im Vorabend des Ersten etablierten Gameshow-Schiene dürfte dann das Augenmerk auch wieder stärker auf den Spielshows liegen.