Vor gut zwei Jahren beherrschte die angesehene Odenwaldschule die Schlagzeilen. Damals kam ans Tageslicht, dass über zwei Jahrzehnte hinweg mehr als 130 Schüler an dem Internat von Lehrern missbraucht wurden. Nun sollen die dramatischen Ereignisse in Filmform aufgearbeitet werden - eigentlich eine gute Sache, sollte man meinen. Doch das Thema ist vor allem deshalb pikant, weil derzeit an gleich zwei Projekten gearbeitet wird - und glaubt man den Gerüchten, so sorgt genau das für reichlich Streit innerhalb des Opfervereins Glasbrechen e.V.

Dieser hat sich nämlich vor wenigen Tagen für das Kino-Projekt von Stefan Raisers Produktionsfirma Dreamtool ausgesprochen und gleichzeitig ein Projekt des WDR öffentlich abgelehnt. Einen unbedingten Zwang, eines der Projekte zu unterstützen, gab es dabei allerdings nicht. Das Drehbuch des geplanten Dreamtool-Films orientiert sich am Buch eines unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers schreibenden früheren Odenwaldschülers. Nicht zuletzt aus diesem Grund sei die Entscheidung getroffen worden. "Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir dieses Projekt als erstes unterstützen. Das Buch von Jürgen Dehmers ist ein Garant für die Agenda der Betroffenen", sagt Andreas Huckele im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de.

Huckele ist Sprecher des Spielfilmprojekts für Glasbrechen. Für das WDR-Projekt findet er dagegen scharfe Worte. Die Verantwortlichen des Films hätten dem Opferverein zwar ihre Planungen präsentiert, doch dabei habe es sich um eine "erbärmliche Vorstellung" gehandelt. Nachfragen zu dem Projekt seien nicht befriedigend beantwortet worden. "Zudem war nicht mal klar, ob es tatsächlich explizit ein Film über die Odenwaldschule werden soll oder nicht", sagt Huckele. Zumindest diese Aussage deckt sich mit der Ansicht des WDR. Dort verweist man auf die gerade stattfindende Recherche. "Wir entwickeln derzeit ein Buch. Erst danach wird entschieden, ob überhaupt gedreht wird", betont Fernsehfilm-Chef Gebhard Henke gegenüber DWDL.de.

"Inhaltlich lässt sich noch sehr wenig sagen. Deshalb verwundert es mich sehr, dass andere, die gar nichts kennen, schon etwas sagen können", so Henke. Bei Glasbrechen betont man, dass es keineswegs so sei, dass man zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts über das Vorhaben wisse - und verweist auf ein Anfang März in der "Frankfurter Rundschau" erschienes Interview mit dem für das WDR-Projekt zuständigen Autoren-Paar Sylvia Leuker und Benedikt Röskau, in dem Röskau ankündigt: "Jeder Satz, der in diesem Film gesprochen wird, ist ein erfundener Satz." Raiser soll den Opfern laut "Focus" dagegen versprochen haben, den Film mitgestalten zu können. Zugleich habe er betont, die Konkurrenz des großen WDR würde dem kleinen Kino-Projekt kaum helfen.

Zugleich stört man sich bei Glasbrechen daran, dass angeblich nur eine einzige Originalperson erhalten bleiben soll. "Uns stört die Fokussierung auf die Täter - als seien alleine die Täter interessant." Die Perspektive der Opfer sei ungleich entscheidender. Glasbrechen-Sprecher Andreas Huckele: "Wir haben die dringende Befürchtung, dass bei dem WDR-Projekt die Person des Schulleiters im Vordergrund steht. Das kennen wir seit Jahrzehnten, davon haben wir genug. Jetzt ist es an der Zeit, den Opfern den ihnen zustehenden Raum zu gewähren." Aus Sicht der Opfer ist das verständlich - und doch sorgt die nun bekannt gewordene drastische Entscheidung gegen das Projekt des WDR für Verwunderung.

WDR-Fernsehfilm-Chef Henke: "Es ist sehr ungewöhnlich, dass man sich über etwas streitet, was man noch nicht gesehen hat." Ohne Streit ging die Diskussion über die beiden Filmprojekte aber auch bei Glasbrechen nicht über die Bühne. Huckele spricht auf DWDL.de-Nachfrage von einer "konstruktiven Auseinandersetzung" und betonte, dass es in diesem Jahr "Eintritte statt Austritte" gegeben habe. Man habe die nun getroffene Entscheidung zugunsten des Dreamtool-Projekts "mehrheitlich geteilt". Laut "Focus" steht allerdings auch die Frage im Raum, ob Autor Jürgen Dehmers den Verein womöglich instrumentalisiert hat, um seine Geschichte als Filmstoff durchzudrücken.

Gegenüber dem Nachrichtenmagazin betonte der Vorsitzende von Glasbrechen, Adrian Koerfer, eine solche Unterstellung "geht schlicht zu weit". Und er sagt: "Wir lassen uns nicht missbrauchen, wir wurden schon einmal missbraucht." Und doch bleibt eine Frage: Tut es wirklich Not, ein Filmprojekt bereits abzulehnen, das sich offenkundig erst in der Planungsphase befindet? Hinter dem WDR-Projekt stehen schließlich unter anderem ndF-Produzent Hans Koch und Benedikt Röskau, der in der Vergangenheit bereits für den ARD-Zweiteiler "Contergan" verantwortlich zeichnete - ein vielfach ausgezeichneter Film.

"Röskau hätte mehr über Odenwald erzählen sollen und weniger über 'Contergan'", kritisiert Glasbrechen-Mitglied Andreas Huckele das Vorgehen. "Beide Kontexte sind nicht vergleichbar." Hinzu kommt: Regisseur Christoph Röhl, der für das Projekt des WDR gewonnen wurde, zeichnete auch bereits für die Dokumentation "Und wir sind nicht die Einzigen" verantwortlich, die sich ebenfalls mit den Missbräuchen an der Odenwaldschule auseinandersetzt und im vergangenen Jahr für den Deutschen Fernsehpreis nominiert wurde.

Trotz aller Kritik von Seiten des Opferverbands will der WDR an seinem Projekt festhalten. "Natürlich machen wir weiter", kündigt Fernsehfilm-Chef Gebhard Henke im Gespräch mit DWDL.de an. Beim WDR verweist man zudem darauf, dass sich der Glasbrechen-Vorsitzende Adrian Koerfer am Wochenende offiziell bei Henke entschuldigt und sich ausdrücklich von den Äußerungen Einzelner distanziert habe. Ob damit der Streit ein Ende nimmt, bleibt abzuwarten. Letztlich wird eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Filme wohl erst möglich sein, wenn sie auch tatsächlich produziert worden sind.