Menschen weinen, schreien, rufen um Hilfe. Es bedarf nicht viel Fantasie, um zu erahnen, wie es all jenen ergangen sein muss, die sich nach dem Zusammenstoß zweier Regionalbahnen in Bayern mit teils schweren Verletzungen zwischen den Trümmern befanden. Ein Video, das unmittelbar nach dem Unglück im Inneren eines der Züge entstanden ist, zeigt all das. Doch sollte man das Video auch im Fernsehen zeigen? Was darf, was muss man den Zuschauern zumuten, und vor allem: Was nicht?

Diese Fragen galt es in vielen Nachrichtenredaktionen zu beantworten und eine kleine Umfrage bei einigen Fernsehsendern macht deutlich, dass es die eine richtige Antwort vermutlich nicht gibt. Während sich die ARD dazu entschied, am Dienstagabend kurze Ausschnitte aus dem Video in ihren Nachrichten zu zeigen, dabei aber auf Ton und Bilder und Verletzten verzichtete (DWDL.de berichtete), hat sich das ZDF gegen eine Ausstrahlung entschieden. Es gelte, im Einzelfall abzuwägen, ob privates Videomaterial dem journalistischen Auftrag diene oder eher als Respeklosigkeit gegenüber den Opfern wahrgenommen wird, heißt es aus Mainz.

Auch Claus Strunz, Chef des Sat.1-"Frühstücksfernsehens", verweist gegenüber DWDL.de auf den jeweiligen Einzelfall. In seiner Sendung war das Material aus dem Zuginneren nicht zu sehen. "Für ein Programm wie das des Sat.1-'Frühstücksfernsehens', das sich auch an Familien wendet, also auch von Kindern gesehen wird, gilt zusätzlich: Nicht alles, was wir journalistisch dürften, machen wir auch", erklärt Strunz. Bei N24 waren Ausschnitte aus dem Video hingegen nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören - wenn auch mit reduzierter Lautstärke. Von "journalistischer Relevanz", die das Video habe, ist bei Springers Nachrichtensender die Rede.

Gleichzeitig betont N24-Sprecherin Kristina Faßler allerdings, dass die Redaktion unbeeindruckt von den Abrufzahlen im Netz über den Einsatz des Materials diskutiert habe. Und auch bei n-tv entschied man sich ebenso wie beim Muttersender RTL zur Ausstrahlung des Video-Materials aus dem Innneren des Unglückszuges. "Als Nachrichtensender ist es unsere journalistische Pflicht, den Zuschauern und Usern Sachverhalte aufzuweisen und sie möglichst vollumfassend zu informieren", so n-tv-Chefredakteurin Sonja Schwetje. "Es steht uns nicht zu, sie zu bevormunden, gleichzeitig müssen wir aber den Respekt vor den Opfern wahren."

Ob es wirklich eines wackeligen Handyvideos bedarf, um das Ausmaß des Unglücks bemessen zu können, muss letztlich jede Redaktion für sich selbst beantworten. Im Folgenden dokumentieren wir alle Antworten auf unsere Anfrage:

ZDF© ZDF
ZDF-Sprecher Thomas Hagedorn: "Das ZDF hat dieses Video nicht verwendet und sich bewusst dagegen entschieden. Bei Berichten über Unfälle und Unglücke ebenso wie bei Berichten aus Kriegs- und Krisengebieten ist mit Blick auf zusätzlich angebotenes, privates Bild- und Videomaterial immer abzuwägen: Dient es dem journalistischen Auftrag, über das Geschehen möglichst detailliert zu informieren, oder sind die jeweiligen Bilder von der Unfallstelle, etc. eher eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern? Das muss jede Redaktion ebenso immer wieder im Einzelfall abwägen wie auch zu prüfen ist, ob solche Videos jeweils authentisch sind und wirklich einen Teil des Geschehens zeigen."

Sonja Schwetje© n-tv/Hardy Welsch
n-tv-Chefredakteurin Sonja Schwetje: "Grundsätzlich sind solche Bilder weder als Mensch noch als Journalist gut zu ertragen. Daher werden solche Entscheidungen gründlich überlegt und nicht übers Knie gebrochen. Man muss genau abwägen zwischen einem Dokument der Zeitgeschichte und Voyeurismus. Als Nachrichtensender ist es unsere journalistische Pflicht, den Zuschauern und Usern Sachverhalte aufzuweisen und sie möglichst vollumfassend zu informieren. Es steht uns nicht zu, sie zu bevormunden, gleichzeitig müssen wir aber den Respekt vor den Opfern wahren. Es handelt sich hier um eines der schlimmsten Zugunglücke Deutschlands. Deshalb haben wir eine kurze Sequenz des Videos in einer bearbeiteten Form gesendet, die diesen Abwägungen Rechnung trägt.“

N24 Logo© N24
N24-Sprecherin Kristina Faßler: "N24 hat sich entschieden, das Video zu zeigen. Warum? Wir können davon ausgehen es ist echt. Das haben wir, wie bei jeder anderen Quelle auch, geprüft. Aber ist es journalistisch und ethisch gerechtfertigt, das Material auch einzusetzen? Das diskutiert die Redaktion ganz bewusst in jedem Fall vollkommen unabhängig und sehr bewusst unbeeindruckt  davon, ob es im Netz bereits unendliche Male gesehen und geshart wurde. In diesem Fall hat das Video eine journalistische Relevanz, da es zur Aufklärung der Ereignisse einen wichtigen Beitrag leistet. Ganz sicher berührt es, aber das ist nicht der Grund für den Einsatz. Die Schreie im Hintergrund haben wir bewusst in der Lautstärke reduziert, uns auf die enthaltenen wichtigen Informationen zum Zug und dem Signal fokussiert und es im Kontext der Unglücks unmittelbar professionell eingeordnet."

Claus Strunz© Axel Springer
Claus Strunz, Programmgeschäftsführer von MAZ&More: "Um das Ausmaß der Katastrophe zu dokumentieren, sind einzelne Sequenzen statthaft - der Schutz des Einzelnen muss dabei aber immer gewährleistet bleiben. Was für Angehörige von Opfern gilt, sollte selbstverständlich auch für die Opfer selbst gelten und muss in jedem Einzelfall neu bewertet werden. Für ein Programm wie das des Sat.1-Frühstücksfernsehens, das sich auch an Familien wendet, also auch von Kindern gesehen wird, gilt zusätzlich: Nicht alles, was wir journalistisch dürften, machen wir auch. Deshalb haben wir in diesem Fall entschieden, das Video nicht zu senden."

RTL© RTL
RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer: "Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eines der schwersten Eisenbahnunglücke der letzten Jahre handelt, haben wir uns entschlossen, Ausschnitte aus dem Video zu zeigen. Dabei haben wir Personen verfremdet dargestellt und auf bestimmte Szenen bewusst verzichtet."