Schwerfällig, reformfaul, innovationslahm? Um das Image der Öffentlich-Rechtlichen ist es nicht zum Besten bestellt. Der in Dosen durchaus spürbare Optimierungswille verdurstet viel zu oft in den verästelten Strukturen. Aber es gibt sie dennoch, die Oasen, aus denen zukunftsweisende und ressourcensparende Ideen sprudeln, sogar mit Mehrwert fürs Publikum. Eine davon befindet sich in München beim Bayerischen Rundfunk und steht unter dem Vorsitz von, bitte strammstehen:

Ulrike Köppen, Chief Artificial Intelligence Officer.

Diese Spezies, abgekürzt CAIO, schießt wie Pilze aus dem Boden als Reaktion auf die schwindelerregend schnelle Entwicklung von Künstlicher Intelligenz in praktisch allen Branchen. Der BR hat die übergreifende Führungsrolle für die Steuerung der hauseigenen KI-Strategie im vorigen Sommer mit der Mitarbeiterin besetzt, die wohl den meisten Durchblick hat.

ChatGPT spuckt über sie aus:

Uli Köppen © Markus Konvalin
„Ulrike Köppen steht an der Spitze innovativer Entwicklungen im Qualitätsjournalismus: Sie verknüpft datengetriebene Recherche, automatisierte Prozesse und technologische Gestaltung mit einem starken ethischen Rahmen. Als Vordenkerin und Impulsgeberin befördert sie den Wandel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und zeigt, wie KI den Journalismus bereichern kann, ohne seine Prinzipien aufzugeben.“

Und das stimmt sogar, bei all dem Unfug, den der Bot sonst so verzapft. In der international vernetzten KI-Experten-Bubble genießt „die Uli“, wie sie gerufen wird, tatsächlich hohen Respekt, weil sie sich gut auskennt und auch die richtigen Leute kennt.

Der Hype um generative Sprachmodelle war noch nicht ausgebrochen, da hatte die 1981 in Landshut bei München geborene Journalistin die Potenziale von maschinellem Lernen und algorithmischem Recherchieren schon längst erkannt und begonnen, ihren Heimatsender AI-ready zu machen. Das von ihr im Januar 2020 ins Leben gerufene AI + Automation Lab war in der deutschen Medienlandschaft das erste seiner Art. Neidvoll blickt manch anderes Medienhaus auf die personellen Ressourcen: Rund 20 Mitarbeitende aus unterschiedlichen Disziplinen arbeiten in dieser Spezialeinheit des BR an nichts weniger als der Verbesserung von Journalismus gemäß den ethischen Richtlinien, die sie sich für den Einsatz von KI gaben. Das sprach sich in der ARD rum.

Zeitgleich zu ihrem Upgrade zur CAIO wurde Köppen von den Intendantinnen und Intendanten mit der Aufgabe betraut, gemeinsam mit WDR-Kollegen ein ARD-weites KI-Netzwerk aus hybriden Teams aufzubauen, das sich in Clustern zu bestimmten Themen austauscht, damit Wissen, sofern vorhanden, nicht nur in der eigenen Rundfunkanstalt versickert. Doppelstrukturen sollten vermieden, Experten zusammengebracht, Tools geteilt werden.

Das ist natürlich unbedingt zu loben. Aber wie gut klappt die Zusammenarbeit zwischen den ARD-Anstalten mit ihren starken Egos wirklich?

Agile Struktur in der ARD? Scheint möglich!

Die Antwort darauf gibt kein Bot und kein Avatar, sondern Uli Köppen höchstselbst und mit Humor: „Die ARD ist ein großer Laden, das weiß niemand besser als Sie. Aber in diesem Netzwerk bringen wir wirklich Dinge voran.“ In der Netzwerksteuerung kämen sie jede Woche und aus jedem Gewerk zusammen: Juristen, Journalisten, Techniker, Programm- und Finanzleute. Anstatt dann nach Hause zu gehen und erstmal tausend Absprachen treffen zu müssen, entschieden sie direkt in dieser Runde, „was großartig ist, das macht die Struktur sehr agil.“

Als Beispiel nennt Köppen einen von BR und ORF gemeinsam entwickelten KI-Assistenten. Der AiDitor erstellt in datengeschützter Umgebung und auf Basis von Links oder recherchierten Inhalten in Sekundenschnelle Online-Stories, TV- und Radiotexte, Teletext-Artikel, Social-Media-Postings oder Headlines. Außerdem kann das Tool Texte transkribieren, Zitate selbst erkennen und extrahieren und in mehr als 40 Sprachen übersetzen, was den oft zeitaufwändigen Arbeitsprozess erheblich erleichtert. Auch die Audioqualität von Aufnahmen kann mit dem AiDitor verbessert werden.

Beim Rollout in der ARD hätte sie vorher nicht gewusst, wen sie eigentlich anrufen muss, sagt die eigentlich erfahrene Netzwerkerin. „Jetzt haben wir alle Leute an einem Ort und können sagen: Okay, wir brauchen Geld, wir müssen einen Vertrag aufsetzen, wir müssen das Hosting regeln . . .“ Der nächste Schritt sei nun, dieses Netzwerk mit der ganzen ARD-Tech-Welt zu verzahnen.

Was Köppen und Co. da also alles tun und machen, dürfte ganz im Sinne des Zukunftsrats sein, der für zentrale Strukturen und mehr Zusammenarbeit in der ARD wirbt. Etwaige Zweifel, dass sich die ARD mit diesem 800-Personen-starken KI-Netzwerk womöglich aber doch ein Bürokratiemonster geschaffen haben könnte, wischt die CAIO des BR drüben in ihrem Büro in München-Freimann lachend weg: „Nein, ich hoffe nicht. Das würde mir selbst gar keine Freude machen.“

Das von ihr geführte AI + Automation Lab gehörte zusammen mit dem Newsroom zu den ersten Teams, die im Herbst 2024 die neue BR-Zentrale am Rande der Stadt bezogen – und erstmal im Winter froren. Die supermoderne Gebäudetechnik hatte ihre Tücken. Die Teams wappneten sich mit Heizstrahlern und ein paar Wollsocken mehr. Aber jetzt ist Sommer, als wir sprechen. Ulrike Köppen, diese Sportskanone, die sich mit Eisbaden und Bouldern fit hält, kam mit dem Fahrrad ins Büro und muss jetzt endlich mal erzählen, wie sie das überhaupt wurde: ein Tekkie.

Denn schaut man auf ihren Magisterabschluss, scheint ihre Karriere in der Tech-Schiene auf den ersten Blick nicht die logische Fortsetzung zu sein.

Wie Uli Köppen zum Tekkie wurde

Nach dem Volontariat beim „Straubinger Tagblatt“ studierte Uli Köppen ab 2003 in München und Paris vergleichende Literaturwissenschaft und Semiotik. Letzteres gilt als Orchideenfach, exotisch, einzigartig, brotlos, so wie Albanologie und Provinzialrömische Archäologie. Für Köppen war die Lehre der Zeichen indes eine gute Vorbereitung für den späteren Brotberuf. Denn wie sich Zusammenhänge im Zeichenbereich erschließen, funktioniert ihr zufolge „ähnlich wie Programmiersprachen“. Und Theaterwissenschaft (noch so eine akademische Orchidee) im Nebenfach half ihr sehr im Bereich Storytelling und Dramaturgie.

Alles andere notwendige Wissen eignete sie sich on the job in der Zusammenarbeit mit Experten aus verschiedenen Disziplinen an. „Eine begabte Programmiererin bin ich nicht und wollte ich auch nie werden“, sagt Köppen, „aber ich habe die Methodik verstanden und weiß, wen ich dazuholen muss.“

Sie selbst wurde vom BR 2009 dazugeholt, zunächst als freie Reporterin in der Online-Redaktion. Journalistische Erfahrung bei Arte, der „Süddeutschen Zeitung“ und der (seit 2013 nicht mehr existenten) Nachrichtenagentur dapd brachte sie mit. Nach zwei Jahren – sie war gerade 30 – leitete sie schon ihr erstes Team (Cultural Content), ein Jahr drauf wurde sie „Head of Cross-Media Journalism“ und verantwortete Projekte über verschiedene Medienkanäle hinweg.

Offenbar nicht ausgelastet, widmete sie sich abends und am Wochenende dem „Slow Journalism“, wie sie es nennt: In dem 2014 von ihr mit gegründeten Kollektiv „Butterland“ recherchierte sie für Medienpartner wie Deutsche Welle und „taz“ über Monate zu Themen wie Flüchtlingskrise und Presse(un)freiheit in der Türkei, dafür gab es sogar einen Preis. Mehr Tempo hätte sich Köppen dagegen bei ihrer nächsten Aufgabe im BR gewünscht.

Gemeinsam mit ihrem Online-Kollegen Robert Schöffel sollte sie ein so genanntes Transmedia-Team aufbauen, das später in BR Data umfirmierte. Für diese neue Recherche-Methode „Wir schauen uns Daten an und holen Geschichten da raus" Journalisten, Programmierer und Designer zusammenzubringen und vor allem auch Budget, ging Köppen nicht schnell genug voran. Aus heutiger Sicht empfindet sie es aber als Geschenk: „Datenjournalismus war damals Neuland. Es gab Vorbehalte auch im eigenen Haus.“ Sie mussten viel erklären und selbst erstmal verstehen, was ihre Mission eigentlich ist. Nach der allerersten Veröffentlichung „Schnee von morgen“ konnten die Datenversteher Informationsdirektor Thomas Hinrichs als Unterstützer auf ihre Seite ziehen. BR Data war ab 2015 on track.

KI-Auswertung der Wahlprogramme als Aha-Moment

Ihren persönlichen Aha-Moment, dass aus Künstlicher Intelligenz und Automatisierung the next big thing werden könnte, hatte Daten-Chefin Köppen im Jahr 2017. Sie kam frisch aus der Elternzeit zurück zu BR Data, wo sie zum ersten Mal einen lernenden Algorithmus für eine Investigation nutzten. Dieser durchforstete die Wahlprogramme der Parteien aus früheren Wahlperioden und ordnete deren Entwicklung auf einer Skala von rechts nach links ein. Anhand dessen sagten sie spaßeshalber die nächste Koalition in der Bundesregierung voraus.

Uli Köppen © Markus Konvalin
Dass aus Jamaika nichts wurde, dafür konnten Köppen & Co. nun wirklich nichts, nur FDP-Chef Christian Lindner. Aber spätestens da war allen klar: Krass, das ist ein valides Tool, das können wir nicht nur für Inhalte benutzen, sondern auch für die Art, wie wir sie erzählen und in welchen Produkten. Hierzulande gab es dafür noch keine Rollen, keine dezidierten Experten. In den USA aber schon. 2018 zog Köppen das große Los.

Als eine von weltweit 27 Auserwählten durfte sie mit Nieman-Stipendium nach Harvard gehen. Bei der Bewerbung unterstützte Nieman Alumna Ines Pohl mit einem Empfehlungsschreiben. Die heutige USA-Korrespondentin der Deutschen Welle schrieb über ihre eigene Harvard-Erfahrung (lange vor Trump 1.0!) einmal, dass es auch privat eine überaus glückliche Zeit für sie gewesen sei, weil sie dort ihre Lebenspartnerin kennengelernt habe. Nicht weniger euphorisch klingt Ulrike Köppen, wenn sie von ihrem eigenen Auslandsjahr gemeinsam mit Frau und Kind erzählt: Harvard habe die Grundlage für ihre Arbeit in den letzten Jahren geschaffen, „sowohl fachlich als auch menschlich“.

Besonders die amerikanische Art zu lernen und Dinge auszuprobieren, findet Köppen großartig: „Du schreibst einfach einen Professor an und prompt geht er mit dir einen Kaffee trinken und beantwortet dir all deine Fragen. Jede Idee wird erstmal begrüßt. Dieses Mindset finde ich sehr erfrischend.“

Das Just do it ist nicht unbedingt Teil der deutschen Kultur und sicher nicht eine Kernkompetenz der Öffentlich-Rechtlichen. Und da wundert es nicht, wenn Ulrike Köppen freimütig zugibt, dass sie sich beim Zurückkommen nach einem Jahr „auch schwergetan“ habe. Sie überlegte sogar ernsthaft, ein anderes Jobangebot anzunehmen, anstatt ihre Arbeit beim BR fortzusetzen. Ihr Boss back in Munich konnte sie umstimmen.

Der schwierige Wechsel aus den USA zurück nach Deutschland

Noch in den USA fing Köppen an, mit Thomas Hinrichs über KI im Journalismus zu sprechen und wie sie die Technologie für die ARD nutzen könnten. „Er gab mir die große Freiheit, mir auszudenken, was und wie wir es machen müssen“, sagt sie. Ein Modell, an dem sie sich hätte orientieren können, gab es nicht. Im ersten Dreivierteljahr habe sie „gefühlt allein mit der Schaufel auf dem Feld“ gestanden und musste auch Weggefährten überzeugen. „Das war ein ganz schöner Kraftakt.“ Er hat sich ihr zufolge gelohnt.

„Das Team ist sehr ungewöhnlich zwischen Recherche und Produkt aufgestellt. Mit diesem Spagat sind wir“, glaubt Köppen, „in der deutschen Medienlandschaft noch immer einzigartig.“ Neben besagtem KI-Assistenten entstand auf diesem Experimentierfeld das „Regional-Update“ mit individuell zusammengestellten Regio-News per Audio und ein Kommentar-Digest, der in Foren den Einstieg in den Dialog erleichtert.

Andererseits probieren sie im Lab auch viele Dinge aus, die dann nie beim User landen, weil sie der Meinung sind, dass sie noch nicht reif sind oder nicht zum öffentlich-rechtlichen Auftrag passen, zum Beispiel den „Frag den BR“-Bot. Das Risiko für schwierige Halluzinationen und auch das vor anderthalb Jahren noch nicht vorhandene Nutzer-Bewusstsein dafür erschien Köppens Team und der Chefredaktion „nicht passend zu unserer Marke“.

Frustrieren lässt sich die KI-Chefin von solchen Rückschlägen nicht. Im Gegenteil. Sie weitet den Kreis von KI-Expertinnen und -Experten zum gemeinsamen Austausch und Entwickeln über den BR weiter aus. Im dem von ihr und Ippen Media initiierten „AI for Media Network“ versammelt sich Expertise aus Öffentlich-Rechtlichen, Verlagen und Industrie. Sehr hands-on und pragmatisch gehen sie in den Meet-ups und Hackathons miteinander um. Der langjährige Streit mit den Pressehäusern über presseähnliche ARD-Angebote? Spielt dort keine Rolle.

Und wenn Uli Köppen dann doch das Bedürfnis nach einer noch intensiveren „Positiv-Impfung“ hat, dann verbringt sie eine Zeit in den USA und kehrt jedes Mal „total aufgeladen“ zurück. Die letzte Dosis holte sie sich im März ab, bei einer Konferenz und auf Studytour mit der European Broadcasting Union in vier US-Bundesstaaten.

Auch Tech-Giganten wie Amazon und Google schaute sie sich näher, um von ihnen zu lernen. Damit die ARD in Sachen KI nicht den Anschluss verliert.