Als im Herbst vor drei Jahren „Für Euch“ erschien, Iris Sayrams persönliche wie politische Liebeserklärung an ihre verstorbene Mutter, wurde sie von der Autorin des „Spiegel“ gefragt: „Sie gehen jetzt ins ARD-Hauptstadtstudio mit Ihrer Biografie – haben Sie nicht Sorge, dass das nicht passt?“ Da bekam die Fernsehjournalistin Schiss: Was, wenn sie recht haben könnte?

So ganz unbegründet ist das ja nicht. Sayram selbst beschrieb ihren Start ins Erwachsenenleben mal in einem „Tagesthemen“-Kommentar „als Aufstiegskampf, der sich anfühlte wie ein Marathon in schwerfälligen Holz-Klotschen, während meine Mitschüler leichtfüßig an mir vorbeispurteten“.

Lange haderte die gebürtige Kölnerin mit ihrem Elternhaus. Schämte sich sogar so sehr für „Mimi“ und „Musti“, dass sie sie vor Freunden und Kollegen versteckte. Mutter wie Vater ließen hingegen nie einen Zweifel daran, dass die Tochter werden kann, was auch immer sie werden will, trotz der schwierigen Umstände. Wie die waren, wird irgendwann im nächsten Jahr ein Millionenpublikum im Ersten zu sehen bekommen.

Iris Sayram © ARD-Hauptstadtstudio/Stefan Wieland
Gerade wurde in Sayrams Heimatstadt Köln ein Spielfilm über ihre Lebensbeichte abgedreht. Und wieder stellt sich die Frage: Passt das?

Oh ja!

„Schiss“ – das vorneweg – hat Iris Sayram diesmal nicht, und wenn doch, lässt sie ihn sich in unserem Gespräch nicht anmerken. Ihre Stimmung ist rheinisch-fröhlich ansteckend, ihr Blick scharf, dank der markanten 70er-Jahre Brille (-5 Dioptrin!), die sie für Live-Schalten vorm Kanzleramt gerne mal mit Trenchcoat kombiniert, was ihr die Anmutung einer „Tagesschau“-Reporterin im Deutschen Herbst verleiht.

Iris Sayram fällt eben auf, nicht nur optisch. Berliner Kollegen wie etwa Markus Feldenkirchen schätzen sie für ihre „stets interessante und nie ausrechenbare Meinung“. Die sagt die 51-Jährige nie einfach so daher. Es hat schon Hand und Fuß, wenn die promovierte Juristin Karl Lauterbachs Cannabis-Gesetz („endlich, endlich ist es da!“), ein Verbot der AfD oder die gescheiterte Richterwahl von Frauke Brosius-Gersdorf analysiert. Gerne auch bei "Maischberger" oder  im ARD-Twitch-Kanal.

Und natürlich wurde in der Berlin-Bubble, ach was, bundesweit ihr eingangs erwähntes Interview im „Spiegel“ registriert. Mit dem „Rausch an positiven Rückmeldungen“ rechnete sie nicht. Er gab ihr ein „wirklich gutes Gefühl“, sodass es ihr egal wurde, was irgendwer von ihr denken könnte. Die beste Voraussetzung für eine Verfilmung – die sie gar nicht plante, nicht mal eine Veröffentlichung in Buchform. Was sie kurz vor dem Tod der Mutter im Dezember 2019 mit ihr erlebte, schrieb sie für die Grabrede auf. Erst die Freunde brachten sie auf die Idee: „Hey, Iris, du bist nicht allein, es gibt ganz viele von dir. Mach doch eine Art Mutmachbuch draus.“

Zeitgleich mit den Buchrechten handelte Sayrams Literaturagent Thomas Hölzl auch die Filmrechte aus. Eine Produktionsfirma wollte aus „Für Euch“ gleich eine ganze Serie machen. Sie entschied sich aber für das Angebot der Made for Film, denn eine bessere Mimi als Annette Frier in der Hauptrolle hätte sie sich nicht vorstellen können. Beide telefonierten lang. Bei den Ausschnitten, die sie bisher sah, ist Iris Sayram „regelrecht erschrocken“, wie großartig Frier ihre Mutter spielt.

Als am 15. September in Köln die letzte Klappe fiel, war Sayram sogar vor Ort. Gedreht wurde dort, wo früher Karstadt und Hertie gegenüberlagen und et Kükelchen ihre Mimi mit dem „unbedingt haben wollen“-Blick so sehr unter Druck setzte, bis diese ihr den Wunsch erfüllte, oft auch auf nicht legalem Weg . . .

Die Filmszene weckte Gefühle in ihr: „Es ist das eine, die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben. Den Text kann man weglegen, da ist eine Distanz. Aber wenn man unmittelbar sieht, wie das nachgestellt wird, dann auch noch von so einem kleinen Power-Mädchen, das mich als Kind darstellt – da musste ich schon ein paar Mal schlucken.“

Da geht es den Lesern ihrer Biografie nicht anders.

Iris Sayrams Kindheit: Das ist Köln in den 70er und 80er-Jahren, die Hauptstadt der Katholiken und Nachtschwärmer, noch früher auch „Chicago vom Rhein“ genannt wegen der Bandenkriminalität und Zuhälterei. Zwischen Friesen- und Rudolfplatz, zwischen Puffs und Clubs, Bars und Bordellen wächst die kleine Iris auf, bei einer kölschen Mutter, die sich aus den Prügelattacken in der ersten Ehe befreit hatte, und einem Vater, der von einer Karriere als politischer Karikaturist träumte, aber als Gastarbeiter aus Zentralanatolien bei Ford landete. Leute wie er wurden in der gutbürgerlichen Parallelwelt beschimpft als „Kameltreiber“, „Paselacken“ oder schlicht „Kanacken“, die doch nur „ihre“ deutschen Frauen „vernaschen“ wollen. So schreibt es Sayram in ihrem Buch.

Die Eltern haben wenig zum Leben, dafür umso mehr Lebenslust und Liebe für die Töchter. Was man braucht, findet sich, irgendwie, irgendwo. Der Vater vertickt Medikamente, ist selbst abhängig und stirbt vor Iris‘ Abitur. Die Mutter putzt die Kotze in Großraumdiscos weg. Es ist nicht ihr dreckigster Job. Am Ende verkauft sie ihren Körper. Sie tut es „für Euch“, für Iris und ihre Schwester, um ihnen ein glückliches Zuhause zu schaffen – und die Basis für ein bürgerlich-geordnetes Leben.

Iris Sayram © WDR/Oliver Ziebe Journalistin Iris Sayram zu Gast in der ARD-Talkshow "Maischberger".

Iris Sayram schafft den Einstieg ins Jura-Studium. Ihr Traumberuf: Justiziarin bei MTV. Das wäre aber ein „sehr, sehr enger Bereich“ geworden, sieht sie bald ein. Das Berufsfeld Journalismus kristallisiert sich immer mehr heraus. Mit den bunten Seiten geht sie auf Tuchfühlung, seit sie nebenher in der Event-Agentur von einem der „schillerndsten Strippenzieher Deutschlands“ jobbt. So betitelt jedenfalls die nicht minder schillernde „Bild“ den im August 2024 verstorbenen Manfred Schmidt in ihrem Nachruf. Weitere ihm zugeschriebene Attribute: „begnadeter Netzwerker“ und „Partykönig der oberen Zehntausend“.

„,Partykönig‘ stimmt auf jeden Fall“, lacht Sayram. Für sie war „Manfred“ aber in erster Linie „eine väterliche Figur“ mit einer stark ausgeprägten sozialen Seite. Nach draußen pflegte er den Ruf eines Tyrannen, aber wenn jemand „Scheiße an der Hacke hatte“, half er ohne große Worte, auch ihr. In der Agentur war Sayrams Aufgabe, prominente Partygäste herbeizuschaffen. Absagen habe ihr Chef nicht akzeptiert. „Iris Berben und Sabine Christiansen haben beide abgesagt? Das geht nicht!“, polterte er und sie lernte, wie wichtig es ist, hartnäckig zu bleiben, und klemmte sich ans Telefon.

"Mainz war einfach nicht meins"

In der WDR-Abteilung Honorare und Lizenzen arbeitete sie, um bei BMG in New York ihre Doktorarbeit über Musik-Tauschplattformen schreiben zu können, die sich seinerzeit „wie eine Magen-Darm-Grippe“ ausbreiteten. Als dann nach dem Zweiten Staatsexamen viele aus ihrem Freundeskreis nach Berlin gingen, zog die Dr. jur. mit und bewarb sich erfolgreich an der Axel Springer Journalistenschule. In der „Welt“, ihrer Stammredaktion, bekam sie sogar eine eigene kleine juristische Kolumne.

Dass sie bei Springer, überhaupt bei Print nicht blieb, lag nicht an ihrem Chefredakteur Thomas Schmid; zu ihm hatte sie ein gutes Verhältnis. Ihr „journalistisches Ideal“ war der öffentlich-rechtliche Rundfunk, mit dem sie sich schon während des Studiums schwerpunktmäßig beschäftigt hatte und wo es zudem „keine Unternehmensgrundsätze gibt und man mehr oder weniger nur seinem Gewissen und natürlich geltendem Recht unterworfen ist“. Sagt’s und merkt selbst, dass das Gesagte so klingt, als würde sie wie eine Jeanne d’Arc immer ihrem Gewissen folgen. Nein, so ist es nicht, lacht sie, sondern ganz banal: „Natürlich habe ich auch auf meine ganz persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten geguckt und wie attraktiv die Angebote waren.“

In der Rechtsredaktion des ZDF arbeitete sie nur kurz, denn: „Mainz war einfach nicht meins.“ Zurück aus der Provinz dockte sie beim rbb an. Das erste Betätigungsfeld: die politischen Magazine „Kontraste“ im Ersten und „Klartext“ im Dritten. Wieder eine lehrreiche Zeit für sie – aber auch sehr intensiv und ernüchternd.

Mit ihrem Redaktionsleiter Reinhard Borgmann rang Sayram um Themen, um die Ausrichtung, ja um jedes Wort. Beherztes Streiten, das mag sie grundsätzlich. Besser, als einfach irgendwas zu veröffentlichen. Als „großen Freund des einerseits, andererseits“ bezeichnet sie sich. Und plädierte deshalb in der Redaktion dafür, „die Dinge mehr zu versachlichen, als zuzuspitzen.“ Doch mit ihrem Vorschlag, nicht nur Aufreger zu produzieren, sondern auch mal einen Abreger, kam sie nicht durch.

Vermutlich hätte sie damit auch bei keinem anderen Polit-Magazin Erfolg gehabt. Die Zuspitzung ist dort generell Programm.

Und plötzlich kam der Schlesinger-Skandal

Als „Klartext“ 2016 eingestellt wurde, nahm Sayram das zum Anlass, sich umzuorientieren. Sie wechselte zuerst in die ARD-Zulieferredaktion für „Tagesschau“ und „Morgenmagazin“, danach in die Parlamentsredaktion des rbb. Sie kniete sich in die „unfassbar spannende“ Berliner Landespolitik hinein. Doch ihr Interesse, „gestaltend tätig zu sein“, sprich ihre Ideen für neue Formate einzubringen, war irgendwann größer. Also klopfte sie 2021 in der RBB-Intendanz an. Frei war gerade der Posten als juristische Referentin. Auch gut. Denn dort konnte sie ihre Kenntnisse aus dem Studium ausspielen.

Aber auf das, was als „Schlesinger-Skandal“ Mediengeschichte schreiben sollte, war sie nicht vorbereitet.

Über Patricia Schlesinger werde sie „kein schlechtes Wort verlieren“, betont Sayram und tut es ein ganz klein wenig dann doch, mit einem für sie typischen, vorsichtig abwägenden einerseits, andererseits. Wortwörtlich sagt sie über die ehemalige Chefin: „Ich kann ihre Bemühungen, den rbb programmlich zu profilieren, anerkennen. Die Methoden kann man kritisieren. Wie groß ihre Fehler waren, werden Gerichte zu klären haben – nicht ich.“

Andererseits: Da seien auch viele Dinge zusammengekommen, die „einfach nicht glücklich“ waren, die Kostensteigerungen, die Unzufriedenheit bei den Menschen, die sich nicht genug mitgenommen fühlten bei dem, was Schlesinger vorhatte. „Um es magazinmäßig zuzuspitzen: Ich bin mir nicht sicher, ob Patricia Schlesinger als Gesicht taugt für all die Probleme, die es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt.“

Bevor die Enthüllungen und Vorwürfe im Spätsommer 2022 auf alle Mitarbeitenden im RBB niederprasselten, lag auf Iris Sayrams Tisch bereits der unterschriebene Vertrag fürs ARD-Hauptstadtstudio. Sie dachte nur: „Puh, einmal Glück gehabt!“ Es hing ja nicht nur das persönliche Schicksal der Intendantin dran. Viele im Sender wussten nicht, wie es für sie beruflich weitergeht, schließlich verlor der RBB mit Schlesinger auch den ARD-Vorsitz.

Drüben im ARD-Hauptstadtstudio wiederum kursierte in jenen turbulenten Tagen sehr wahrscheinlich auch die ganz persönliche Enthüllung der Kollegin in spe. Gab es denn den einen oder anderen kritischen Kommentar? „Es kann natürlich sein, dass nicht jeder gut findet, wenn man sich öffentlich nackt macht“, antwortet Sayram, „aber das hat mir nie jemand ins Gesicht gesagt.“ Sie glaubt, dass sie journalistisch sogar einen Vorteil haben könnte, weil sie bei sozialen Themen wie Bürgergeld eigene Erfahrungen einbringen kann.

Iris Sayram © ARD-Hauptstadtstudio/Stefan Wieland
Dennoch, so schrieb sie es noch nicht lang in einem Social-Media-Post, fühle sie sich nach wie vor „wie ein Alien“, weil es in den Redaktionen zu wenige Menschen mit einer ähnlichen Biografie gibt. Das habe sie „vielleicht zu überspitzt formuliert“, sagt sie jetzt, „es gibt eigentlich keinen Mangel an Diversität.“ Jeder bringe doch mit seiner Biografie eine Facette mit ein, ob man migrantisch ist, ob arm oder reich, ob Ost oder West, ob alleinerziehend oder alleinstehend. „Nur muss man all diese vielfältigen Facetten metaphorisch gesprochen auf die Straße bekommen.“ Da sieht sie „noch Luft nach oben“ – und meint damit „die große Frage unserer Tage“: Wie viel Meinung halten wir eigentlich aus? Wer traut sich noch, für seine Position einzustehen und zu sagen, ich sehe das eigentlich anders?

Iris Sayram findet: „Das müssen wir insgesamt – ob in den Medien, Redaktionen oder allgemein gesellschaftlich – stärker kultivieren, statt dem anderen immer sofort das Schlimmste zu unterstellen“, sei es die Diskussion über Krieg und Frieden, Russlandnähe, Antisemitismus oder Corona.

Und absolut recht hat sie damit!

Ihr selbst hilft es in all diesen aufgeheizten Debatten sehr, dass sie noch so viele Kontakte mit Leuten aus ihrer Heimat hat. Es schreiben ihr auch Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus, Handwerker, Arbeitslose, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Im Austausch mit ihnen merkt sie: „Krass, das Thema wird ganz anders wahrgenommen als im Kollegenkreis. Das erdet mich.“

Ihr Vater, der Ford-Arbeiter wider Willen, brachte Iris Sayram übrigens nie Türkisch bei und ganz bewusst, weil er befürchtete, dass sie zwei Sprachen verwirren könnten. Er war es auch, der ihren Vornamen durchgesetzt hat, weil Iris international funktioniert und die Deutschen nicht daran denken, dass die Eltern – Buchzitat – „als knoblauchstinkende Analphabeten aus einem Bergdorf in Ostanatolien gekrochen sind“.

Die kölsche Sproch, mit der sie aufwuchs, hat ihr Fernseh- und Interview-Ich getilgt, aber natürlich nicht die Liebe zur Heimat. Es ist bei ihr halt so wie bei den meisten Kölnerinnen und Kölnern, die es wagen wegzuziehen: Kölle bliev immer tief em Hätz. Und so überrascht es nicht, wenn die Exilantin auf die Frage, ob sie Köln vermisst, mit einem lautstarken „Oh ja“ antwortet.

Ihre Zukunftsperspektive ist, dass sie irgendwann das ernste Berlin gegen das kölsche Et hätt noch immer jot jejange eintauscht. Sie sieht sich schon, wie sie dann mit lila gefärbten Haaren und einem Piccolöchen samstagmorgens im Bazar de Cologne mit Freundinnen sitzt, und am Nachmittag gehen sie eine Runde Tennis spielen.

Wat för herrlische Ussichte, nit wohr?