X FactorDer Ruf von Castingshows ist in kaum einem anderen TV-Markt so schlecht wie in Deutschland. Zu verdanken haben wir dies Dieter Bohlen. Er macht aus "Deutschland sucht den Superstar" und "Das Supertalent" zwar für den Sender höchst attraktive Formate, die jedoch ihre Grundidee längst zu Gunsten von tragischen Schicksalsstorys sowie der Inszenierung von Bohlen geopfert haben. Bei ProSieben zieht sich eine "Popstars"-Staffel inzwischen wie Kaugummi über Ewigkeiten, zuletzt auch ohne Erfolg. Man kann also das negative Image des Genres in Deutschland gut verstehen.

Doch "X Factor" hat gute Chancen das zu ändern. Nimmt man die beiden Auftaktsendungen, die RTL als Anschub-Promotion für seinen Schwestersender VOX am Freitag und Samstag ausgestrahlt hat, als Indikator, dann kann man sich freuen: Auch so kann Casting funktionieren. Schon "Unser Star für Oslo" zeigte einen alternativen, sehr minimalistischen Weg. "X Factor" geht da konventionellere Wege - aber mit viel Gespür dafür, wie man sich von den beiden existierenden Casting-Formaten bei RTL abhebt. Das hat auch einen guten Grund: Produzent Grundy Light Entertainment ist auch für "DSDS" und "Supertalent" verantwortlich. Da passt man selbst schon gut genug auf.
 

 
Größter Unterschied ist dabei überraschenderweise nicht einmal der Modus mit drei verschiedenen Bewerbergruppen. Es ist die Jury von "X Factor", die den entscheidenden Unterschied macht. Sie hat vorallem eins: Keinen Dieter Bohlen. Doch nicht nur das: Sie hat dafür eine Sarah Connor, die auf Anhieb überzeugt. Es geht eben auch menschlicher, mitfühlender, leiser. Neben ihr sitzen Till Brönner und George Glueck. Der eine etwas lauter, auf Sprüche abonniert. Der andere manchmal hart, meist aber fast ein bisschen altersmilde. Im Zusammenspiel jedoch spürt man den Spaß, den die Jury  dabei hat. Dass der Zuschauer dies mitbekommt, ist auch so eine Besonderheit von "X Factor". Immer wieder geht es backstage, etwa mit den Juroren in die Pause. So werden auch Zwischentöne aufgefangen.

Im Bewerberfeld von "X Factor" einen Unterschied zu den "DSDS"-Kandidaten zu suchen, ist schwierig. Gefühlt mag es ihn geben, doch letztlich entsteht dieser Eindruck nur durch die gewählten Auftritte, die der Zuschauer zu sehen bekommt. Daran gemessen gibt es Unterschiede: Während "DSDS" auf Pleiten, Pech und Pannen setzt und RTL längst selbst von einer Comedy spricht, zeigt "X Factor" mehrheitlich echte Talente. Ganz ohne peinliche Auftritte geht es natürlich nicht - nur macht sich "X Factor" nicht lustig.  Die Auftaktsendungen wurden so - auch dank der unbeschwerten Moderation von Jochen Schropp - zu angenehmer Unterhaltung. Die Sendung gibt damit  keinerlei Anlass für Diskussionen über Niveau oder TrashTV. Man muss das Genre nicht mögen, aber sollte das Format gerade dann nicht voreilig über einen Kamm scheren mit anderen Vertretern.

Spannend wird natürlich die Frage, ob dem "X Factor"-Gewinner eine nachhaltigere Karriere bevorsteht als anderen Castingshow-Gewinnern. Das darf man bezweifeln. Aber es ändert nichts an den beiden gut produzierten Show, die am Freitag und Samstag bei RTL liefen. Viel spannender, weil auch naheliegender ist momentan eh erst einmal die Frage: Werden die TV-Zuschauer dem Format zu VOX folgen, wo es fortan dienstags läuft? Am Mittwochmorgen gibt es darauf eine Antwort. Aber als Freund guter Fernsehunterhaltung darf man sich wünschen, dass es klappt. Nach einem Jahrzehnt dominiert von Bohlen und "Popstars" wäre ein Neuanfang für das Genre Castingshow wünschenswert