Das Fernsehereignis der Woche lief ganz klar beim ZDF. Das Seehofer-Interview in zwei Teilen sorgte für Furore. Ein Raunen ging tags darauf durch Republik, Leitmedien und soziale Netze. Von "Wutrede" wurde gesprochen. Dabei wirkte Seehofer gar nicht so wütend. Vielleicht ein bisschen genervt. Und so spektakulär war das, was er im Nachgespräch zum Besten und gönnerhaft zum Senden freigab, bei genauer Betrachtung eigentlich nicht. Zumindest inhaltlich. Denn im Kern der Sache unterschieden sich seine Aussagen kaum vom offiziellen Teil.

Stefan Leifert benennt es treffend bei "heute.de": "Keine Frage: Das Interview ist spektakulär – nicht weil es Neues bietet, sondern weil es existiert. Das gesendete Nachgespräch ist ein so authentisches wie seltenes Beispiel für die Art, wie Politiker reden, wenn die Kameras ausgeschaltet sind. Aus einem Politiker scheint plötzlich ein normaler Mensch zu werden, aus Wortstanzen werden verständliche Sätze." Und genau das ist es, wonach dem Publikum derzeit der Sinn steht.

Seit ich im Fernsehbetrieb unterwegs bin ist Authentizität das Totschlagargument für so ziemlich alles. Doch was damit gemeint ist, unterliegt modischem Wandel. Vor rund zehn Jahren verharmloste man mit dem Begriff die schlichteren Gemüter, die sich nicht darum scherten, sich zur Schau zu stellen bzw. sich zur Schau stellen zu lassen. Es waren die Zlatkos dieser Welt, denen man nicht zutraute, die Ereignisse um ihre Prominenz sorgsam zu reflektieren.

Heute gelten eher diejenigen als authentisch, die genau wissen, was sie tun, denen bewusst ist vor der Kamera zu stehen – und die sich am Ende (zumindest augenscheinlich) doch nichts daraus zu machen und frisch von der Leber weg agieren. In diesem Zusammenhang war das Seehofer-Interview mit Vorher-Nachher-Effekt höchst interessant. Vor allem, da es nur wenige Tage nach der vergeigten Facebook-Party des Unionspolitikers über die Bühne ging. Sein P1-Grußwort-Video in seiner Chronik ("...flockig, locker, offen... ") kommt auf keine 400 Gefällt mir-Daumen.

Mehr als 1.200 Likes gab es hingegen für diesen kurzen Text bei Facebook nur wenige Tage später: "Liebe Facebook-Freunde, danke für die ganzen positiven Rückmeldungen zu meinem ZDF-Interview. Die SMS-Kommentare von einigen Politikerkollegen, die mich erreicht haben, waren da nicht ganz so freundlich. Denen sage ich: Beschäftigt euch mehr mit der Wahrheit als mit dem, der sie ausspricht. Euer HS."

Das Beispiel Seehofer zeigt einmal mehr, wie groß die Sehnsucht des Publikums derzeit nach Unmittelbarkeit ist. Glattgebügelte Fassaden ohne glaubwürdige Persönlichkeit wird nur noch selten verziehen. In einer Zeit, in der jeder mit jedem kommunizieren kann und die Beschäftigung mit persönlichen Befindlichkeiten in sozialen Netzen, Blogs und selbstgefilmten Videos eine Trendbeschäftigung sind, wird Natürlichkeit auch von Leitfiguren erwartet. Vorbei ist’s mit der Beliebigkeit.

In der aktuellen Ausgabe des Onlinemagazins "screen.tv", das die ProSiebenSat.1 Media AG mehrmals im Jahr herausgibt, sagt Multitalent Jan Böhmermann: "Haltung bei Fernsehmoderatoren ist so eine neumodische Erfindung der 2010er Jahre. Die Zeiten, in denen man als bekenntnisloser TV-Fuzzi durchgegangen ist, sind vorbei". Wenn man sich über alles und jeden lustig mache, dahinter aber nicht mehr erkennbar sei, was man eigentlich denke, dann sei das für den Zuschauer auf Dauer unbefriedigend. Seine eigene Haltung speise sich "aus breitem Genervtsein und freundlicher Abscheu", so Böhmermann.

Das Fernsehen hat sich in Sachen Authentizität bereits massiv verändert. Als ich vor rund zehn Jahren noch in einer Casting-Redaktion gearbeitet habe, wollten die Sender "echte Typen", die dennoch frei zu sein hatten von jedem Makel. Diese Zeiten sind eindeutig vorbei. Fünf Kilo über dem Normgewicht des Werbeideals sind heute keine Karrierekiller vor der Kamera mehr – wenn "das Gesamtpaket" stimmt.

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