Na endlich: einer, der noch weiß, wie man fernsieht! Michel Friedman kommt rein, pflanzt sich aufs Sofa im Studiowohnzimmer, greift in die Schale mit den Schokonüsschen, schaut losknabbernd in die schon laufende Glotze und sagt: "Darts! Eine Sportart, die ich echt nicht kapiere." Bevor auch der Gastgeber reinkommt ("So, da bin ich!") und durchs vorbereitete Clip-Programm zu zappen beginnt.
"Press Play" heißt die neueste Produktion, mit der die ARD und Louis Klamroth mit seiner Produktionsfirma Florida Factual zeigen wollen, dass man Themen aus Politik und Gesellschaft auch so gestalten kann, dass sich ein jüngeres Publikum davon angesprochen fühlt (siehe DWDL.de-TV-Kritik).
Produktion ist auf Zack
Die Bilanz dieser durchweg lobenswerten Mission ist bislang leider ernüchternd. Aber am Gast hat's diesmal nicht gelegen. Im Gegenteil: Der 69-Jährige (von Louis unerklärt geduzte) Friedman stellt sich als echter Jungbrunnen für "Press Play" heraus, weil er das ganze künstliche Setting, in das ihn die Produktion zwingt, einfach zum Anlass, eigene Anekdoten zu erzählen, Standpunkte zu erklären, gesellschaftspolitische Entwicklungen einzuordnen – und sich nachhaltig für eine Zweitkarriere als ernstzunehmender Fernsehkritiker empfiehlt, indem er dem deutschen Fernsehfilm im Allgemeinen und dem "Tatort" im Besonderen eine penetrante Publikumsunterforderung durch Szenendauererklärung attestiert: "Warum trauen die mir nicht zu, dass ich verstehe, was sie mir zeigen?" Und: "Ich sitz da, geile Szene – und dann kommt von neben schon wieder ein Kommissar, der mir erklärt: Da ist 'ne Leiche!"
Als nachher ein Ausschnitt aus irgendeiner WDR-Kleingarten-Doku läuft, kriegt Friedman Heißhunger auf Currywurst – und bestellt die prompt bei Klamroth, der verspricht: "Gucken wir mal, Produktion ist auf Zack!"
Flachquatsch und ungelenke Bezüge
Den ersten beiden Ausgaben hat man die Zackigkeit leider nicht so angemerkt: Mit Cem Özdemir und Heidi Reichinnek schaltet Klamoth stur durch vorbereitete Clips, von denen die Redaktion hofft, sie als Gesprächsgrundlage für tiefergehende Gespräche nutzen zu können – während die beiden Nicht- bzw.- Wenig-Fernseher:innen aber vorrangig mit Staunen beschäftigt sind, was den ganzen Tag so über deutsche Flachbildschirme flimmert, bevor jede:r irgendeinen Reality-Quatsch oder den aktuellen Bundesweh-Rekrutierungsspot auf YouTube kommentieren muss. Während Klamroth abwechselnd Flachquatsch fragt ("Kochen Sie gerne?") und arg ungelenke Bezüge zu schaffen versucht ("Toxische Beziehungen – kennen Sie das aus der Politik?").
Einen "Videoabend mit Tiefgang" versprach der Sender und lieferte am Ende (trotz des unterhaltsamen Friedman-Ausreißers) bloß einen Beleg der Planlosigkeit, mit der die angekündigte Genre-Modernisierung seit bald zwei Jahren vonstatten geht.
Losgegangen ist alles mit dem Versuch, den von Klamroth übernommenen Polittalk "Hart aber fair" fürs Netz "snackable" zu machen: Mit "Hart aber fair to go" wollte man Zuschauer:innen in der Mediathek gewinnen, die keine Lust (mehr) haben, ihren Montagabend damit zu verbringen, Politiker:innen beim linearen Streiten zuzusehen (DWDL.de-TV-Kritik).
"to go", "Kompakt", "Spezial" – egal?
"Hier gibt's die spannendste Szenen von 'Hart aber fair' und exklusiv mit euch gucken wir dann nochmal genauer hin", versprach Klamroth seinem Publikum anfangs direkt in die Kamera, präsentierte als sein eigener Co-Moderator die wichtigsten ausgetauschten Argumente, ergänzte Einordnungen und Belege. "Das war's für diese Woche – tschö!"
Das hat, ganz offensichtlich, nicht so wie erhofft funktioniert. Vielleicht auch wegen seiner Undurchschaubarkeit: Während manche Ausgaben als zusätzliche Sendung zum Original funktionierten und eine mit Feedback, Recherche-Ergebnissen und Expert:innen-Interviews angereicherte Nachbereitung lieferten, gab es manchmal auch einfach nur ein von Klamroth lose geklammerte Talk-Schnipselei. Als schon nicht mehr so arg viel Ambition übrig war, wurde "to go" zu "Hart aber fair Kompakt". Mutmaßlich Ende des vergangenen Jahres folgte dann die Einstellung ohne weitere Erklärung. (Auf YouTube sind die Ausgaben noch verfügbar, in der ARD Mediathek erscheint beim Klick auf die Links das Sandmännchen mit bedauerndem Blick: "Oje! Es ist ein Fehler aufgetreten.")
Dass einem die Ohren donnern
Diese Art der inhaltlichen Aufbereitung hat die Redaktion über die Sommermonate in die nächste Auskoppelung hinüberzuretten versucht: "Hart aber fair Spezial" (kein Witz!). Für die führte Klamroth lange, interessante, gut vorbereitete Interviews zu abwechslungsreichen Themen, u.a. mit der Wirtschaftsweisen Ulrike Malmendier und Astronaut Alexander Gerst. Das Ergebnis stand nachher als Podcast in der ARD Audiothek zur Verfügung – und eben in einer Video-Kurzversion als "Spezial". Wieder mit Highlight-Clips. Und Klamroth, der den Zuschauer:innen dazwischen ein Info-Gewitter um die Ohren haut, dass einem davon die Ohren donnern.
Muss sich Europa stärker im Weltraum engagieren? Zack, zack, zack – zwanzig Minuten Zeit für: die Spar-Maßnahmen der NASA, Probleme der ISS, Jeff Bezos & Blue Origin, Deutschlands Raumfahrtministerium, den Mond-Reaktor der USA, Elon Musks SpaceX-Stadt und den "Weltraumvertrag" von 1967.
Andere Frage: Arbeiten wir in Deutschland zu wenig – oder sind fehlende Vollzeitattraktivität, Mum-Shaming bei der unzureichenden Kinderbetreuung und miserable Willkommenskultur an der darbenden Wirtschaft schuld? Vorsicht, "das Arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft geht davon aus, dass ..." – und: "Mehr als ein Viertel der Unternehmen sagen einer ifo-Umfrage zufolge …"
Ein schreckliches Missverständnis
Ich sitz da, geile Szene – und dann kommt von neben schon wieder ein Klamroth, der mir erklärt: Da ist 'ne Statistik?
All das kann eigentlich nur ein schreckliches Missverständnis sein. Denn die bisherige Strategie scheint sich im Kurzschluss zu erschöpfen, Inhalte immer weiter zu verdichten, bis sie Löcher produzieren, wenn man sie an den Kopf kriegt.
"Kürzer" bedeutet aber nicht automatisch "jünger". Und Politik ist kein Sushi. Man kann sie nicht einfach in mundgerechte Häppchen schneiden und erwarten, dass sie dann besser schmeckt. Im Gegenteil: Wer komplexe Zusammenhänge auf wenige Minuten presst und dazu ein Feuerwerk an Quellen und Statistiken zündet, macht Politik nicht zugänglicher – sondern endgültig erschlagend.
Der Preis des Experimentierens
Vorläufiger Tiefpunkt dieses Irrwegs war "Hart aber fair 360“. Die Idee klang gut: 25 Bürger:innen im Stuhlkreis, die mit Politiker:innen diskutieren und per Buzzer bestimmen, wann jemand anderes dran ist. Demokratie zum Anfassen. Leider wurde daraus: Demokratie zum Wegbuzzern. Nach zwei Ausgaben: nie wieder gesehen.
Mag sein, dass das der Preis des Experimentierens ist. Gerade wurde Klamroths ARD-Vertrag bis Ende 2027 verlängert und angekündigt, dass weitere neue Formate entwickeln werden sollen. Gut so!
Aber so langsam müsste mal erkennbar werden, in welche Richtung man damit eigentlich steuern mag. Und wie man eine Community aufzubauen gedenkt, die sich darauf verlassen kann, dass das gesellschaftspolitische Format ihres Vertrauens nächste Woche nicht schon wieder einen neuen Namen hat, ein völlig anderes Konzept hat – oder gleich ganz abgesetzt ist.
Wie machen das die anderen?
Als nächstes hat der Senderverbund ein neues Townhall-Format mit Klamroth in Aussicht gestellt, bei dem Bürger:innen wieder mit Politiker:innen diskutieren – diesmal hoffentlich ohne Buzzer. Nach einer Neuerfindung das Genre klingt das aber auch nicht unbedingt. Dabei fehlt es Klamroth und seiner Redaktion ja erkennbar weder an Ehrgeiz noch an fundierter Recherche. Produktion ist definitiv auf Zack! Was aber fehlt, ist eine klare Idee davon, was junge Zuschauer:innen wirklich wollen. Und das ist eben nicht unbedingt nur: kürzer.
Vielleicht hülfe es, sich andere erfolgreiche Formate anzusehen, die mit oder für die Onlione-rezeption entwickelt wurden. "MaiThink X - Die Show" von ZDFneo bereitet komplexe Inhalte aus der Wissenschaft für ein jüngeres Publikum auf, dauert kompakte 30 Minuten, ist aber klar strukturiert und dramaturgisch durchdacht.
Die "Kurzstrecke" mit Pierre M. Krause – bei der Klamroth vergangenes Jahr selbst zu Gast und locker, nahbar, sympathisch war – funktioniert durch Unvorhersehbarkeit und Spontaneität, aus denen sich einzigartige Situationen mit den Gästen ergeben.
Mit Struktur und Currywurst
Kann man sich nicht das Beste aus beiden abgucken – und für die eigenen Zwecke adaptieren? Vielleicht muss Klamroth mit seinen Gästen einfach mal raus aus dem Studio. Und Begegnungen mit echten Wähler:innen möglich machen. Nicht als Buzzerspiel, ohne künstliche Wohnzimmeratmosphäre, aber mit Struktur , Raum für Unvorhergesehenes – und Currywurst.
Letztere ist bei der Aufzeichnung mit Friedman kurz vor Schluss dann auch tatsächlich noch reingereicht und gemeinsam verzehrt worden. "Ihr seid fantastisch!", lobte Friedman. Und ließ als kleines Gegengeschenk an die Redaktion die Erkenntnis da, dass gute Gespräche nicht entstehen, weil man durch Fernsehprogramm zappt. Sondern weil jemand was zu sagen hat und bestenfalls die Zeit dafür bekommt, es auch zu tun.
Und damit: zurück nach Köln.
"Press Play" ist in der ARD Mediathek verfügbar; "Hart aber fair" läuft manchmal montags um 21 Uhr im Ersten.