Die Mühlen öffentlich-rechtlicher Innovation mahlen langsam – aber einmal in Bewegung gesetzt, lassen sie sich auch so schnell nicht mehr stoppen. Zum Beispiel bei der "Tagesschau", dem über viele Jahre in Stein gemeißelten Seriositätsbeleg beitragsfinanzierter Nachrichtenberichterstattung. Seit einiger Zeit schon probt man dort nicht nur die über viele Jahre unmöglich gewesene Moderation mit Unterkörper, sondern stellt Sprecher:innen auch zum Publikum gewandt vor große Panoramabilder. Statt feststehender Schrift-Inserts laufen teilweise kurze Videosequenzen, auf die sich die zuständige Nachrichtenkraft sogar aktiv bezieht.
Und obwohl das bereits einer größeren Revolution gleichkommt, ist das alles natürlich ein Klacks gegen das, was die ARD mit ihrer Marke an anderer Stelle veranstaltet, um jüngere Zuschauer:innen zu ködern, die sich laut WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn "weniger für klassische Nachrichten interessieren" (den Zusatz "als sie es sollten" muss man sich hinzudenken).
Morgenroutine für "Nachrichtenmüde"
Statt 15 linearen Minuten Weltgeschehen um 20 Uhr bietet die ARD dieser Zielgruppe seit fast anderthalb Jahren 15 zeitsouverän abrufbare Minuten frühmorgens ab 6 Uhr – als "Nachrichtenpodcast, der die Menschen über die klassische Nachrichtenagenda hinaus informiert und mit Leichtigkeit in den Tag bringt" – bei "15 Minuten. Der tagesschau-Podcast am Morgen".
Das ist nicht nur insofern eine Neuerung, weil dafür drei Landesrundfunkanstalten eng miteinander kooperieren: WDR, MDR und NDR. Sondern auch, weil es sich bei dem Ergebnis um eine der spektakulärsten Markenverwässerungen in der deutschen TV-Branche handelt.
Die ARD feiert ihren Podcast als riesigen Erfolg: Im Sommer meldete man nach einem Jahr "14,5 Mio. Abrufe über alle Plattformen hinweg" (was auch immer das bedeutet) und attestierte sich "eine treue Hörerschaft": "Mittlerweile gehört der Podcast für viele, auch eher nachrichtenmüde Menschen zur täglichen Morgen-Routine". Und die Grundidee ist ebenso richtig wie konsequent: das Informationsbedürfnis von Beitragszahlenden nicht (mehr nur) vorrangig in linearen Programmgewohnheiten von früher zu zwingen, sondern stärker zu individualisieren. Auch der Impuls, Hosts aus verschiedenen Regionen Deutschlands zu verpflichten, um "unterschiedliche Perspektiven" einzubringen, ist nachvollziehbar.
Ziemlich fett, ziemlich hell
Aber ob es wirklich gerechtfertigt ist, "stolz" darauf zu sein, wie es WDR-Programmdirektion und ARD-aktuell-Chefredaktion ("perfekte Ergänzung zu den anderen Informationsangeboten der tagesschau") groß vor sich hertragen, lässt sich durchaus infrage stellen, wenn man zur treuen Hörerschaft gehört.
Denn Fakt ist, dass es sich bei der Dreisenderkooperation vorrangig um ein munteres Umkonfektionieren bestehender Inhalte handelt, die innerhalb des Verbunds bereits anderweitig produziert worden sind und von den wechselnden Host-Duos allmorgendlich bloß lose miteinander verbunden bzw. mit persönlichen Eindrücken angereichert werden, bevor ein kurioser Rausschmeißer für gute Laune sorgen soll.
Nach zwei Minuten Warmplaudern ging's vergangenen Donnerstag um den "Supermond diese Nacht", den Host Uli Spinrath "gestern Abend schon gesehen [hat], bevor ich ins Bett gegangen bin. Ziemlich fett, ehrlich gesagt, ziemlich hell bei mir in Mönchengladbach." Weil man seinem Publikum bei "15 Minuten" konsequent keine Politiker:innenzitate zumuten will, lief zur Bürokratieabbau-Initiative der Bundesregierung anschließend ein Zitatschnipsel von einem Metzgermeister aus Sachsen, der nach wie vor mehr Papierkram als Wurst produziert, bevor Spinraths Kollegin Magdalena Bienert beipflichtete, weil eine Freundin auf dem Standesamt neulich alle digital eingereichten Unterlagen wieder ausgedruckt bekommen hat. Der digitale Führerschein kommt, Aufkleber an Heizkesseln fallen weg – aber: "Der große Wurf ist ausgeblieben."
Anekdoten als journalistisches Material
Für eine Einordnung dazu, was das konkret bedeutet, war nachher leider keine Zeit, denn: das Sprengen von Geldautomaten führt jetzt zu längeren Haftstrafen, die EU-Umweltminister haben sich auf neues Klimaziel geeinigt und die Polizei hat auf der A1 bei Münster ein Auto rausgezogen, in dem ein Pärchen Sex hatte – während der Fahrt, bei etwa 140 km/h. Dem Fahrer droht jetzt ein Verfahren wegen gefährlichen Eingriffs in den – Spinrath: "Achtung: Straßen-Verkehr".
Sex-Gags von der "Tagesschau". Komisch, dass da vorher noch niemand drauf gekommen ist.
Diese erzwungene Lockerheit führt in "15 Minuten" zu mehreren Problemen. Allzuoft werden private Anekdoten als vermeintlich journalistisches Material benutzt ("Ich kenn aus meinem Umfeld mehrere Fälle", "Bei mir in Halle ist das echt auch ein großes Problem"), der Podcast-typische Plauderton simuliert Interaktion mit dem Publikum eigentlich bloß – ohne dass es eine echte Auseinandersetzung mit den per WhatsApp oder E-Mail eingesandten Hörer:innenmeinungen gäbe.
Mehr "Brisant" als "Tagesschau"
Vor allem aber gibt es keinerlei Hierarchisierung zwischen wirklich wichtigen Themen, die wie von tagesschau.de vorgelesen wirken, und bloßen Banalitäten, weswegen der Podcast mit seiner Mischung aus Weltgeschehen, Service-Beiträgen, Polizeimeldungen und Kuriositäten oftmals deutlich näher dran an "Brisant" ist als an der "Tagesschau".
Hätten Sie gewusst, wie Fastfood-Giganten bei den Portionen schummeln? Dass König Charles David Beckham zum Ritter geschlagen hat? Und dass bei Host Uli laut seiner per Teams zugeschalteten Moderationskollegin "da unterhalb der Nase etwas mehr Schatten als sonst ist, kann das sein?" – aber er sich den Schnäuzer aus dem Urlaub trotzdem nicht abrasiert hat, um wie viel andere im "Movember" ein Zeichen für die Männergesundheit zu setzen, sondern weil's "einfach kacke" aussah?
All das ist eine bewusst getroffene Entscheidung innerhalb des Senderverbunds, um internationale Politik "dosierter" vorkommen zu lassen, wie man selbst referiert – aber das macht die Sache nicht besser.
Weltgeschehen, aber kleinpüriert
Im Grunde genommen ist der "Tagesschau"-Morgenpodcast der Versuch, einer Zielgruppe, die sich eigentlich nicht für Nachrichten interessiert, das Gefühl zu geben, trotzdem welche konsumiert zu haben. So wie man Kindern das Gemüse bis zur Unkenntlichkeit wegpüriert, damit sie es endlich essen.
Dafür recycelt "15 Minuten" hauptsächlich Material aus (Regional-)Magazinen der beteiligten Landessender ("Hallo Niedersachsen", "Schleswig-Holstein Magazin"), "Moma" und den unzähligen Verbraucher:innen-Tricks-Reportagen – ohne das zu benennen. Viele Themen sind weitgehend zeitlos und könnten genauso gut vor Wochen produziert worden sein. Die "tägliche Aktualität" ist in diesen Fällen bloß Illusion. Ähnlich wie die Behauptung, nur Menschen zu Wort kommen zu lassen, die wirklich was zum Thema beizutragen haben.
In Wahrheit sagt immer bloß die Frau von der Verbraucherzentrale, dass man beim Einkaufen aufpassen soll; wahllos befragte Leute in der Essener Fußgängerzone sind skeptisch; namenlose Rentner erzählen, dass sie jenseits der 80 freiwillig den Führerschein abgegeben haben (oder nicht); ein Mann aus Dortmund hat auch schon mal Erfahrungen mit Spielsucht gemacht; und zwischendurch kriegt man Satzfetzen empörter Mittelständler um die Ohren gehauen, die alltäglich von unzähligen Regionalreporter:innen für das bestehende Magazinangebot der Öffentlich-Rechtlichen eingeholt werden.
Merken Sie sich das bitte nicht
Wenn wirklich mal jemand was zu erzählen hat, wie der Obstbauer aus der Nähe von Hannover, der vorrechnet, warum er wegen der hohen Lohnkosten nur noch Wurzelgemüse statt Himbeeren anbaut, grätscht der Host dazwischen: "Das waren jetzt viele Zahlen – müsst ihr euch aber nicht merken."
Okay. Aber – WARUM NEHMT IHR SIE DANN IN DIE SENDUNG?
Nicht mal den selbst gesetzten Anspruch, Hörer:innen konkreten Nutzwert für ihr Leben zu liefern, kann man erfüllen. Bei der Diskussion um lästige Strafzettel auf Supermarktparkplätzen empfehlen die Podcaster:innen nach der personalisierten Problembeschreibung ("Ich hatte neulich ein Knöllchen über 23 Euro, obwohl ich eigentlich nur 10 Minuten einkaufen war" – "Boah"): "Abschließender Tipp von mir: Schaut euch [auf dem Parkplatz] nach Hinweisschildern um!" Und bei der Suche nach Alternativen zur Altkleiderabgabe, die wegen der abnehmenden Zahl aufgestellter Container, schwierig geworden ist, rät man: "Macht euch da am besten im Internet mal schlau." Danke – für nichts.
Herrje, irgendwann ist es natürlich auch Pflicht, über "Mogelpackungen" zu reden. Magdalena, was sagt deine Mutter dazu? "Die hat neulich mal das Katzenfutter gewogen, weil Mietzi immer hungrig geblieben ist – und: tadaa!, statt den angegebenen 80 Gramm waren da nur gut 70 drin!" – "Gott sei Dank hat sie das noch erkannt." Ja, Gott sei Dank!
Auf Formatradioniveau kleingefaltet
Zwischen Supermond-Smalltalk und Katzenfutter-Anekdoten entsteht eine kontinuierliche Vereinfachung, die einer permanenten Publikumsunterschätzung gleichkommt. Statt komplexe Themen verständlich zu machen, wie es Aufgabe der vielleicht wichtigsten Nachrichtenmarke im deutschen Fernsehen sein müsste, werden sie trivialisiert.
Das ist auch deshalb problematisch, weil die "Tagesschau" bislang für präzise, faktenbasierte Berichterstattung, Neutralität und Sachlichkeit, Priorisierung nach Relevanz sowie verlässliche, benannte Quellen steht. "15 Minuten. Der tagesschau-Podcast am Morgen" ist das exakte Gegenteil davon: eine täglich produzierte Gurkenlasterzusammenstoß-Meldungsanalogie, der die Marke "Tagesschau" auf Formatradioniveau kleinfaltet. Und die ARD ist "stolz" drauf.
Zum Schluss noch was Kurioses aus Hamburg: Dort blieb in einer Ausgabe der wichtigsten deutschen Nachrichtensendung kürzlich die Kamera im Vorspann hängen, sodass Sprecherin Susanne Daubner – hihi – auch erstmal nicht so genau wusste, wo sie hinmodieren sollte. Der Moment sorgte für Kopfschütteln und Witze im Internet und wurde oft in den sozialen Medien geteilt. Find ich irgendwie crazy.
Und damit: zurück nach Köln.
"15 Minuten. Der tagesschau-Podcast am Morgen" erscheint werktäglich gegen 6 Uhr, u.a in der ARD Audiothek.
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