Montagabend, kurz vor 22 Uhr. Während bei Vox noch die monetäre Zukunft der nächsten "Weltmarke" verhandelt wird, bläst der erste Handelspartner schon zum Angriff auf die Kundschaft: "Was war das für eine spannende Sendung", meldet Discounter Netto per Sondernewsletter (obwohl die Show zu diesem Zeitpunkt noch ein Stündchen läuft) und empfiehlt zuzuschlagen, so lange der Vorrat reicht: Gomago Marderschreck für 29,23 Euro, die Flapgrip Handyhalterung für nur 7,78 Euro oder dürfen‘s Gentlemonkeys Gentlewipes-Mikrofasertücher fürs Auto sein – nur 14,61 Euro! (Mehrwertsteuer bereits gesenkt.)

Keine andere deutsche Fernsehsendung ist so sehr zum Verkaufsschlager geworden wie "Die Höhle der Löwen". Ein Großteil der in der Show vorgestellten Produkte landet, wenn sie die Gunst der Investorinnen oder Investoren für sich gewinnen konnte, unmittelbar in deutschen Super-, Drogerie- und Baumärkten. Das ist ein ungeheurerer Erfolg. Und ein Riesenproblem.

Vox hat aus einer großartigen Idee ein Perpetuum Mobile der Restpostenerzeugung werden lassen, bei dem es bloß noch darum zu gehen scheint, Zuschauerinnen und Zuschauern möglichst viel Quatsch anzudrehen. "Die Höhle der Löwen" ist Inkognito-Teleshopping, das sich sogar noch mit regulärer Werbung unterbrechen lässt – der feuchte Traum jedes TV-Vermarkters.

Wie Rumpelstilzchen im Dreiteiler

Das war mal ein Stück weit anders. Gut sechs Jahre ist es her, dass der Sender den Mut hatte, eine Show zu starten, wie es sie im deutschen Fernsehen bis dahin nicht gegeben hatte. Ein Format, in dem ehrgeizige Start-ups und schrullige Tüftler die Chance erhalten, selbst entwickelte Ideen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Und damit im Idealfall ganz groß rauszukommen.

Mit diesem Grundversprechen entpuppte sich "Die Höhle der Löwen" beim Publikum – völlig zurecht – als Überraschungserfolg. Bis heute schalten regelmäßig über zwei Millionen Menschen jede neue Folge ein. Das könnte auch daran liegen, dass Vox bei der Auswahl der von Zeit zu Zeit wechselnden Investorinnen und Investoren ein glückliches Händchen bewiesen hat. Als Löwin der allerersten Stunde ist nur noch Judith Williams dabei, aber die macht ihren Jury-Job weiter so gut gelaunt und emphatisch, dass man sie nach ihren Ansprachen manchmal am liebsten drücken würde; in seiner tapsigen hannoveranischen Schein-Weltgewandtheit ist selbst Carsten Maschmeyer unterhaltsam; und der aktuelle Neuzugang Nico Rosberg, der gar nicht weiß, wohin mit seinen Emotionen, muss als echter Glücksgriff gewertet werden.

Nico Rosberg in Die Höhle der Löwen 2020 © TVNOW / Bernd-Michael Maurer Nico Rosberg ist seit der achten Staffel Löwe.

König der Löwen ist aber "Mister Regal", der von Vox als "Handelsmogul" betitelte Ralf Dümmel, der jedes Mal, wenn er den Zuschlag für einen favorisierten Deal erhält, die Fäuste ballt und sich mit ungespielt wirkender Verkaufsbegeisterung schüttelt wie ein Rumpelstilzchen im Dreiteiler. "Wir können das super im LEH spielen!", purzelt es dann im Fachsprech aus ihm heraus, er bebt: "Ich seh’ das in Baumärkten, ich seh’ das an Tankstellen!" Und träumt von einer grandiosen Zukunft: "Da gehen Mengen in kürzester Zeit, das ist unglaublich!"

Am Ende zählt: Umsatzvolumen

Seit seinem Einstieg in Staffel drei hat Dümmel die Show wesentlich zu dem gemacht, was sie heute ist: einem Dauerbrenner, der seine Realitätstauglichkeit im Markt bewiesen hat, einerseits. Und andererseits eine Sendung, die schon lange nicht mehr in erster Linie das Ziel verfolgt, nützlichen, kuriosen oder abwegigen Erfindungen zu Aufmerksamkeit zu verhelfen, sondern bloß noch fertig angelieferte Produkte in den richtigen Verkaufskanal zu lenken, notfalls mit einem neuen Namen oder – falls überhaupt nötig – einer Werbekampagne.

Ralph Dümmel in Die Höhle der Löwen 2020 © TVNOW / Bernd-Michael Maurer Ralf Dümmel hat den Draht zu deutschen Handelsketten.

Der Sender behauptet zwar immer noch regelmäßig, Gründerinnen und Gründer zu empfangen, "die mit ihren Ideen die Welt verändern" wollen. Dann geht es kurz um Umweltschutz, um Nachhaltigkeit, ums Gemeinwohl.

Am Ende zählt meist aber doch, ob jetzt der Rostschreck für die Spülmaschine oder der Kleinteilesortieraufsatz für den Staubsauger beim Umsatzvolumen vorne liegt.

Natürlich hilft die Show auch dabei, interessante Geschäftsmodelle anzuschieben. Aber viele derjenigen, die mit einer Investment-Zusage das Studio verlassen, stellen schnell fest, dass es von der Weltverbesserungsvision bis zum Grabbeltisch im Discount kein allzu weiter Weg ist. Mit jeder neuen Staffel überbieten sich Handelsketten von Kaufland über Rewe bis zu dm und Obi gegenseitig mit Rabatten auf Artikel, deren Produktverpackung das güldene Gütesiegel aufgedruckt wurde: "Bekannt aus der Vox-Gründer-Show." Dabei neigt sich die Halbwertszeit mancher Produkte schon dem Ende, bevor bei ntv die Wiederholung gelaufen ist. Ohne wiederkehrenden Anschub ist so mancher Hit von heute im Handumdrehen der Restposten von morgen.

Inhaltliche Innovation? Wirtschaftliches Risiko!

Das geht auch deshalb weiter gut, weil – bislang – stetig Nachschub kommt. Der Abflussfee Verschluss-Stopfen? Deal! Der selbstgießende LazyLeaf Blumentopf? Deal! Die Miwiam Hornhautfeile? Deal! Der Taste Hero Bieraufbereiter? Deal! Die BruXane Zahnschiene mit Biofeedback? Deal, Deal, Deal!

"Die Höhle der Löwen" ist als Formattiger gesprungen. Und als moderne Form des Heizdeckenverkaufsfernsehens sehr weich gelandet. Dabei tut sich die Show mit ihrer zunehmenden Konzentration aufs Kommerzielle selbst eher keinen Gefallen. Auch in der gerade laufenden achten Staffel ist "Die Höhle der Löwen" zwar unbestreitbar ein Publikumserfolg, wirkt in diesem aber ähnlich erstarrt wie Rilkes "Panther".

Bis auf den regelmäßigen Löwentausch gibt es kaum Abwechslung, weil dazu wirtschaftlich gesehen keinerlei Notwendigkeit besteht und inhaltliche Innovation eher ein Risiko wäre. Show für Show tauchen deshalb Kandidatinnen und Kandidaten auf, die die gesündere, praktischere, ökologischere, zusammenfaltbarere Version von irgendwas präsentieren – manchmal so schlecht auswendig gelernt, dass sich dagegen jedes Bauerntheater als Hochkulturbetrieb notzertifizieren lassen könnte.

PR-Effekt zur besten Sendezeit

Gesendet wird das trotzdem so verlässlich, dass es sich auch dann in die "Höhle" zu kommen lohnt, wenn man als Gründerin bzw. Gründer von vornherein gar nicht die Absicht hat, Anteile am eigenen Unternehmen abzugeben – sondern einfach den gut kalkulierbaren PR-Effekt zur besten Sendezeit mitnehmen will, um sein Produkt bekannter zu machen. Das funktioniert auch dann, wenn die Raubtierkapitalisten nachher toben, die Firmenbewertung sei ja wohl eine Unverschämtheit gewesen. Das Publikum auf dem Sofa googelt trotzdem.

Während vor einigen Jahren in knapp zwei Stunden Sendezeit noch sechs Pitches passten, lässt sich Vox inzwischen für fünf Präsentationen zweieinhalb Stunden Zeit. Geht vermutlich nicht anders, wenn man, um den Erfolg so richtig auszuschlachten, auch noch eine zusätzliche Frühjahrsstaffel befüllen will. (Die in diesem Jahr aber gegen "Masked Singer" ziemlich deutlich den Kürzeren zog.)

Die Höhle der Löwen 2020 © TVNOW / Stefan Gregorowius Der Deal, der dann doch keiner war - Judith Williams (l.) und Dagmar Wöhrl mit Gründerin.

Im Anschluss an die wöchentliche Ausstrahlung im linearen Fernsehen folgt die Putzerfischberichterstattung im Netz, mit der Start-up-Portale wie Gründerszene penibel auflisten, welcher überschwänglich inszenierte TV-Deal später doch nicht zustande gekommen ist. (Worüber in der Show selbst meist eisern geschwiegen wird.)

Wie "Popstars", bloß im Sitzen

Die Investoren-Riege sitzt – aller Originalität der Charaktere zum Trotz – sicher im Sessel und spult ihr Standardprogramm ab: Produkte sind entweder "das Innovativste, das ich je gesehen hab", weil sie sich easy vermarkten lassen; oder der größte Quatsch, falls nicht. Wer keine Lust auf ein Angebot hat, sagt: "Das ist einfach nicht mein Metier." (Dagmar Wöhrl in 95 Prozent aller Fälle.) Oder, für einen etwas freundlicheren Abschied: "Sie werden Ihren Weg auch so gehen." Wie "Popstars", bloß im Sitzen.

Die Höhle der Löwen 2020 © TVNOW / Bernd-Michael Maurer Georg Kofler (Mitte l.) und Nico Rosberg testen ihre Fitness.

Im Ausnahmefall probieren Georg Kofler und Nico Rosberg die Übungen aus der vorgestellten Breakdance-Sport-App kurz selbst aus, oder Judith Williams und Dagmar Wöhrl testen, ob eine neue Creme wirklich so schnell einzieht wie versprochen. Mit echten Herausforderungen muss die Investorenriege zu keiner Zeit rechnen. Wer sich als Höhlenneuling traut, Widerspruch zu leisten, wenn eine Löwen-Spontananalyse arg schlicht ausfällt, der wird kopfschüttelnd heimgeschickt. Zu jeder Zeit ist klar, wessen Jagdrevier das ist.

Und vielleicht braucht es das auch, um überhaupt Leute mit ausreichend Spielgeld in der Tasche dazu zu kriegen, die sich den ganzen Aufwand anzutun; es ist aber – aus Zuschauersicht – auf Dauer auch sehr ermüdend.

Was heißt das für einen?

Dazu kommt, dass die "Höhle" zwar offiziell einen Moderator hat, der aber auch nach all den Jahren nicht mal in die Nähe der prominenten Hauptpersonen gelassen wird, um ihnen vielleicht im Nachhinein mal eine Situationsbewertung zu entlocken, die interessant sein könnte. Stattdessen steht Amiaz Habtu weiter hinter den Kulissen herum und erledigt geduldig den einzigen Moderationsjob im deutschen Fernsehen, der sich mit weniger Sätzen als 'DSDS' bestreiten lässt: "Was ist da passiert?", "Wie fühlt ihr euch?", "Woran hat’s gelegen?" (wenn kein Deal zustande gekommen ist) und "Was heißt das für einen?", "Wie fühlt ihr euch?" und "Was war das denn?!" (wenn’s geklappt hat).

Das alles ist auch deshalb bedauerlich, weil die Stärken, die das Format und seine Protagonistinnen bzw. Protagonisten zweifellos haben, dadurch systematisch vernachlässigt werden. Zwischen all dem Unfug tauchen ja tatsächlich immer wieder großartige Ideen oder außergewöhnliche Zeitgenossen auf, die ins Scheinwerferlicht gehören – dann aber allzu oft ohne Investment rausmarschieren, weil die Vermarktungsschablone nicht passt oder irgendeine Kleinigkeit nicht gestimmt hat. (Was bei erkennbarer Discount-Eignung übrigens großzügig übersehen wird, denn: "Jedes Hochhaus hat mal als Keller angefangen", sagt Dümmel, der abwechselnd Bluthund und Schmeichler sein kann.)

Die Höhle der Löwen 2020 © TVNOW / Bernd-Michael Maurer Die Gründer Ludwig Petersen (l.) und Paul Bäumler demonstrieren ihre App.

Als in der vergangenen Woche zwei Zwanzigjährige ihre App präsentierten, mit der sie Ehrenamtliche an Vereine vermitteln wollen, und gleichzeitig Geld damit verdienen, um nicht den tausendsten Tod einer schwächelnden Non-Profit-Unternehmung zu sterben, sorgte das auf dem Panel für maximale Stutzigkeit. Wie meinen?

Routine frisst Ausnahmesituation

Wöhrl schien nicht mal das (durchaus schlaue) Argument verstanden zu haben; Kofler bekam das nicht in seine Firmenstrukturen einsortiert; nur Rosberg musste sichtbar mit sich ringen, war dann aber nicht mal in der Lage, ein vernünftiges Gegenangebot zu machen. Es wäre Aufgabe der Redaktion und des Senders, Ausnahmeregelungen für solche Situationen zu schaffen, mit denen es mancher Löwin bzw. manchem Löwen leichter fiele, aus seiner Haut heraus zu können – anstatt den Moment der Spannung ergebnislos von der Routine fressen zu lassen.

Mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten hätte "Die Höhle der Löwen" zweifellos das Potenzial, weit über das Lizenzformat, auf dem sie basiert, hinauszuwachsen. Nach all den Jahren ist davon aber wenig zu sehen, und die Vermutung liegt nahe: um die in Gang gesetzte Vermarktungsmaschinerie nicht zu gefährden.

Ich kann der "Höhle der Löwen" nur wünschen, dass bei Vox trotzdem nochmal jemand merkt, wie sehr die wahren Stärken der Show nicht (nur) im Vertrieb von Honrnhautfeilen, Bieraufbereitern und selbstgießenden Blumentöpfen besteht. Bis es soweit ist, muss ich meine Montagabende künftig aber leider doch wieder raubtierfrei verbringen. Oder, um’s mit den Worten von Dümmel & Co. zu sagen: Ich drück Ihnen die Daumen – aber ich bin leider raus.

Und damit: zurück nach Köln.

Vox zeigt neue Folgen von „Die Höhle der Löwen“ montags um 20.15 Uhr.