Ich mag mich irren und wäre für entsprechende Hinweise sehr denkbar, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sich gerade etwas dreht in dieser Republik und dass diese Wendung viel mit dem Verhalten diverser Medien zu tun hat. Wo vor kurzem noch vorwiegend von Hass und Intoleranz berichtet wurde, liegt der Schwerpunkt nun seit wenigen Tagen auf einem euphorischen Mitgefühl. Um es mal kurz zu sagen: Die deutschen Medien haben mehrheitlich die Empathie für Flüchtlinge entdeckt, haben herausgefunden, dass keine Apokalypse droht, wenn wir Menschen helfen, dass wir können, wenn wir nur wollen.

Auf einmal steht Deutschland als Vorzeigenation da, wenn es um die Aufnahme von in Not geratenen Menschen geht. Selbst die strammsten Konservativen tun auf einmal so, als hätten sie ein Herz. Das ist natürlich zuallererst mal eine Binnensicht. Es ist nicht gesichert, dass die Menschen in anderen Nationen uns in Sachen Flüchtlingspolitik als Vorzeigenation sehen, aber selbst wenn nur wir selbst uns so sehen, sagt das doch einiges aus über die neue Befindlichkeit, die eigentlich keine neue Befindlichkeit ist, die letztlich nur Zeugnis ablegt von dem Umstand, dass plötzlich andere gehört werden als gestern noch.

Gestern noch ging es vor allem um schändliches Verhalten von Rechten, um Hassparolen, um die Frage, ob es richtige und falsche Flüchtlinge gibt. Machen wir uns nichts vor: Das alles wird auch weiterhin diskutiert, auch und vor allem im nur so genannten sozialen Netzwerk Facebook, das sich als Plattform für rassistische Hetze gerade nachhaltig einen Namen macht.

Allein, der gewohnte Widerhall in den Restmedien bleibt nun weitgehend aus oder tönt wenigstens leiser. Dieses mag der Tatsache geschuldet sein, dass vielen Redakteuren das Thema abgearbeitet scheint, dass längst neue Säue durchs Dorf getrieben werden, dass der Rand des Sommerlochs in sichtbare Nähe gerückt ist. Nicht jedes neue Verhalten hat mit Einsicht zu tun, manches folgt einfach abgegriffenen medialen Gesetzen.

Aber ich bilde mir trotzdem ganz naiv ein, dass es ein paar Initialzündungen gab, die das neue Verhalten befördert haben. Ich lasse hier mal meinen Chef Thomas Lückerath außen vor, der unbeirrt damit fortfährt, Facebook wegen einer skandalösen Definition von Meinungsfreiheit unter Druck zu setzen. Ich konzentriere mich mal auf einige andere Beispiele.

Da ist zum einen der Tagesthemen-Kommentar von Anja Reschke, der Anfang August klar Stellung bezog gegen Hetze im Netz. Es ist nicht so, als hätte das vorher noch niemand ausgesprochen. Aber der unbestreitbare Beitrag von Reschke war es, ein großes, oft diffus empfundenes Unbehagen in ein klares Statement zu fassen, dies in griffigen 112 Sekunden zu tun und damit all jene zu füttern, denen es bis dahin an Worten fehlte.

Auch die Statements von Joko und Klaas, von Oliver Kalkofe und etlichen anderen haben gezeigt, dass es nicht cool ist, rechte Hetze nur gelassen hinzunehmen.

Zudem fällt mir noch ein Tagesthemen-Kommentar ein. Der von Georg Restle. Der „Monitor“-Chef schaffte es vor knapp zwei Wochen mit drei prägnanten Beispielen der Bundesregierung nachzuweisen, dass sie durch ihre Politik wesentlich dazu beigetragen hat, dass Menschen flüchten müssen.

Allein die beiden Tagesthemen-Kommentare waren mir meinen Rundfunkbeitrag für 2015 schon wert. Sie haben gezeigt, dass Kommentare in den Tagesthemen nicht zwangsläufig aus abgegriffenen „Man müsste mal“-Formulierungen der Sigmund-Gottlieb-Klasse bestehen müssen.

Selbst das N-Wort, das dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann bei „Hart aber fair“ entwich, hat zur Zivilisierung beigetragen. Natürlich wurde es danach sommerlochtechnisch aufgebläht, aber am Ende des Hypes stand dann doch die Einsicht, dass über Medien verbreitete Worte eben immer Bedeutung haben und niemals nachlässig in den Raum geschleudert werden dürfen.

Die endgültige Wende hat nach meiner Einschätzung aber das Bild des toten syrischen Jungen am Strand von Bodrum eingeleitet. Das hatte mehrere Effekte.

Über die Frage, ob man dieses Bild zeigen sollte, stritt man sich. Die einen meinten, man müsse, die anderen sagten, man dürfe nicht. Was mir auffiel war der Ton, in dem gestritten wurde. Es ging in den meisten relevanten Beiträgen sachlich zu, es entspann sich gar in einigen Fällen ein Dialog, dem ich die Bezeichnung Debatte zuerkennen würde, also eine Auseinandersetzung, die nicht geprägt ist von unverrückbaren Positionen, sondern von dem Wunsch, voneinander lernen zu können.

Dass das Bild des toten Jungen etwas bewirkt hat, geben selbst jene zu, die einwenden, die Reaktionen auf dieses Bild seien insofern zynisch, da sie doch das Schicksal jener Tausenden von Toten diskreditierten, die unfotografiert im Mittelmeer ertrunken sind, deren Ertrinken lange nicht viel mehr als ein Achselzucken bewirkten.

Nun sind Flüchtlinge willkommen. Es mehren sich die Berichte von Menschen, die helfen wollen. In München musste die Polizei die in Massen herbeiströmenden Hilfswilligen per Twitter bitten, keine Spenden mehr zu bringen. Es seien schon zu viele da. Ausgerechnet München zeigte, wie Menschlichkeit geht und sandte damit ein Beispiel in die Welt.

Ich mache mir nichts vor. Der Umstand, dass sich die veröffentlichte Meinung gerade gedreht hat, heißt nicht, dass das lange so bleiben wird. Es werden auch wieder andere Zeiten anbrechen. Möglicherweise schneller als uns lieb ist.

Warum mir das alles auffällt? Ich habe mir über den Sommer noch einmal alle Folgen von „The Newsroom“ angeschaut, ein großartig pathetisch aufgeblasenes Märchen über das, was Journalismus leisten kann, wenn er wirklich wahr und gut sein will. Möglicherweise hat mich das ein wenig übersensibel gemacht.

Aber vielleicht können wir ja alle mal einen Moment innehalten und in unserem Tagebuch die erste Woche des September 2015 als jene vermerken, in dem die deutschen Medien die Empathie entdeckt haben, in dem es ein paar Momente gab, in denen es darum ging, diese Welt mit medialen Mitteln ein wenig besser werden zu lassen. Vielleicht machen wir mal ein dickes rotes Kreuz an den Rand, damit wir in härteren Zeiten dann schnell wieder finden, was uns auch als Mahnung dienen kann. Seien wir einfach Menschen. Wir können das. Auch die Medien.