Phillis Dayanir, Johanna Hellwig, für die ZDF-Serie „Chabos“ mussten Sie gleich acht Hauptfiguren als Teenager und Erwachsene besetzen. Wie findet man die Balance zwischen äußerlicher Übereinstimmung und schauspielerischer Eignung?
Johanna Hellwig: Bei der Besetzung spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: das Temperament einer Figur, ihre Dynamik im Ensemble, die äußere Erscheinung. Optik und Inhalt können unterschiedliche Geschichten erzählen – oder gemeinsam die eine stützen. Gerade bei dieser Serie war es von Anfang an entscheidend, dass die Zuschauer*innen junge und ältere Besetzung sofort als dieselbe Figur wahrnehmen und sich mit ihnen identifizieren können.
Phillis Dayanir: Und genau da entstehen bei Bauchmenschen wie mir früh konkrete Bilder der Darsteller*innen im Kopf, die ihrer Figur auch inhaltlich entsprechen. Da in der Serie die Rolle des erwachsenen Peppi eine zentrale Begleitfigur der jungen Chabos ist, haben wir sie als erste besetzt. Danach haben wir das Jugendcasting gestartet. Weil die Feinjustierung meistens parallel erfolgt, kamen die erwachsenen Schauspieler allerdings gedanklich schnell dazu.
Ist Ihre Kartei da bereits nach Ähnlichkeiten mit Älteren oder Jüngeren vorsortiert?
Dayanir: Nein, sowas gibt es bei uns nicht. Mit jedem neuen Projekt gehen wir bei der Suche nach Übereinstimmungen wie Trüffelschweine in die Wühlarbeit.
Kommt da bei Ihnen bereits eine KI zum Einsatz?
Hellwig: Für thematische Recherchen nutzen wir digitalen Tools schon, im eigentlichen Castingprozess aber nicht. Wir sind neuen Technologien gegenüber offen, vertrauen wir aber weiterhin stark auf unsere eigene Kreativität und Erfahrung.
Wie ist Ihre Wahl da auf die jungen Chabos Nico Marischka, Jonathan Kriener, Loran Alhasan, Arsseni Bultmann und die erwachsenen Johannes Kienast, David Schütter, Max Mauff und Erol Afsin gefallen?
Dayanir: Recherche, Recherche, Recherche. Sichtungen, Vorbesprechungen und Nachbesprechungen untereinander mit Regie, den Produzentinnen und unserer tollen ZDF-Redakteurin Kristl Philippi, viele Impulse wahrnehmen, aber eben auch Erfahrung. Für die jüngere Besetzung haben wir unterschiedlichste Wege eingeschlagen, um neue Talente zu finden.
Wobei besonders die Regie vermutlich keine Lust auf acht socialmedia-gecastete Anfänger am Set hat…
Hellwig: Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch waren zum Glück sehr offen und angstfrei was junge, unerfahrenere Spieler*innen betrifft, auch bezüglich Social-Media-Talenten. Wenn jemand gut spielt und sich die Rolle zu eigen macht, bekommt er eine Chance – egal mit welchem Background.
Dayanir: Und immerhin zwei der vier Jungs hatten vorher ein wenig Dreherfahrung. Ähnlich wie die Darsteller*innen mit großer Social-Media-Präsenz, die ihren Platz im Ensemble sehr gut gefunden haben.
Gibt die Produktion dem Casting darüber hinaus Aufträge mit auf den Besetzungsweg – Stars und Influencer zum Beispiel?
Dayanir: Die Kombination aus neuen Talenten und prominenter Besetzung war von allen Seiten gewünscht. Das hat uns aber keinesfalls kreativ eingeschränkt, im Gegenteil, unsere BBC-Produzentinnen und die ZDF-Redaktion haben uns alle Freiheit gelassen und eine schöne Arbeitsatmosphäre geschaffen. Wir konnten uns vielmehr mit Vorschlägen aus den unterschiedlichsten Themenfeldern austoben.
Hellwig: Allein die Thematik der 2000er hat hier ein großes Feld der Referenzen und Easter Eggs in den Besetzungsvorschlägen geöffnet.
Denken Sie beim Casting auch als Talentscouts mit dem Ziel, Nachwuchs aufzubauen?
Dayanir: Klar, Talente ausfindig zu machen, ist ein wunderschönes Gefühl. Vor allem, weil wir so nicht nur Rollen besetzen, sondern Menschen auf ihrem Weg begleiten dürfen und das macht diesen Beruf besonders erfüllend.
Hellwig: Wir bleiben neugierig. Ob auf der Straße, im Theater oder bei Vorsprechen von Absolvent*innen. Manchmal ist da genau dieser eine Moment, in dem der Funke überspringt.
Die Frage ist, ob man an der Besetzung von Talenten mit weniger Erfahrung am Ende wirklich spart.
Johanna Hellwig
Wächst der Bedarf nach Laien statt Profis auch deshalb, weil sie unterm Kostendruck sinkender Budgets einfach billiger sind?
Hellwig: Die Frage ist, ob man an der Besetzung von Talenten mit weniger Erfahrung am Ende wirklich spart. Unerfahrenheit kann vielleicht weniger Gage, dafür aber mehr Betreuungs- und Drehzeit erfordern. Deshalb sollte die Neugier aufs Talent immer dessen Beitrag zur Geschichte dienen, nicht dem Etat.
Dayanir: Schließlich haben auch die Großen alle klein angefangen – jemand hat ihnen die erste Chance gegeben, gesehen zu werden. Dennoch ist knappe Kalkulation für jedes, also auch unser Gewerk immer eine Herausforderung.
Führt die dazu, dass Community Casting zunimmt, also die Besetzung mit Laien wie bei der „Weiße Hai“, wo bis auf sieben Profis der gesamte Cast vom Drehort stammte?
Hellwig: Laien zu besetzen hat Vor- und Nachteile. Oft fühlen sie sich in ihrer bekannten Umgebung wohl und können die Rollen natürlich ausfüllen; das bringt manchmal das gewisse Etwas. Anderseits ist Community Casting meist zeitaufwendiger und damit kostenintensiver.
Dayanir: Um Vertrauen aufzubauen, haben die jungen Chabos vor und während des Drehs in einer WG gewohnt und sind so Freunde geworden, was in ihr Zusammenspiel eingezahlt hat. Auch auf diese zwischenmenschlichen Töne muss man im Castingprozess achten. Wir suchen natürliche Dynamik zwischen den Rollen, die soziale Beziehungen lebendig werden lässt.
Suchen Sie bei der Besetzung junger Figuren auch das erwachsene Potenzial oder reicht zunächst ihre Eignung fürs aktuelle Alter?
Dayanir: Da stecke ich tief im Hier und Jetzt. Gerade bei Jungschauspieler*innen ist schwer vorherzusagen, wie sie sich vom Teenager- ins Erwachsenenalter entwickeln. Und ob sie den Beruf überhaupt dauerhaft ausüben wollen.
Hellwig: Schauspielagent*innen haben hier natürlich einen anderen Ansatz. Man hat die langfristige Agenda im Blick, da sie die Karriere ihrer Klient*innen aktiv fördern. Trotzdem sind wir auch als Caster*innen Fans der ersten Stunde und freuen uns über jeden neuen Erfolg der Spieler*innen.
Ist Unerfahrenheit bei Nachwuchsschauspielerin eher hinderlich oder sogar förderlich, weil sie impulsive, unverbildete Lockerheit mit sich bringt?
Hellwig: Eher letzteres. Besonders Kinder können unglaubliche Freiheit im Spiel mitbringen. Dabei ist es aber auch wichtig, dass sie sich beim Casting und am Set sicher fühlen.
Dayanir: Bei Nachwuchsschauspielenden kommt vieles – je nach Rolle – ja aus dem Inneren des Seins. Das ist ein tolles Potenzial, das aber auch einzuordnen ist und manchmal einzufangen gilt. Diese Aufgabe ist im Castingprozess auch schon von großer Bedeutung.
Bei spannenden Stoffen ist die Rollengröße nicht immer ausschlaggebend
Phillis Dayanir
Jetzt haben wir viel über die Besetzung Unbekannter gesprochen. Wie bringt man denn Prominente wie Anke Engelke dazu, bei „Chabos“ eine Nebenrolle zu spielen?
Dayanir: Bei spannenden Stoffen und starken Drehbüchern ist die Rollengröße nicht immer ausschlaggebend, es geht vielmehr um die Qualität der Rolle an sich und im Ensemble.
Sofern man sich traut, sie überhaupt dafür anzusprechen.
Dayanir: Fragen kostet nichts. Das Budget ist zwar nie außen vor, aber unser Ansatz immer zuerst ein kreativer.
Hellwig: Wir kennen Anke Engelke schon durch andere Projekte, was erste Schritte erleichtert. Aber selbst, wenn man sich nicht kennen würde, zeigt die Freundlichkeit in der Kommunikation auch bei anderen bekannten Namen seitens der Managements oder Agenturen, wie respektvoll der Umgang insgesamt ist.
Kann man den Casting-Prozess von Drehbuch bis Drehschluss in einen Satz fassen?
Dayanir: Nach Bewerbung, Drehbuch, Kennenlernen, vergleicht man gemeinsame Visionen, recherchiert, recherchiert, recherchiert, sichtet und kombiniert aufgrund intensiver Gespräche die Favoriten nach E- und Live-Castings zum Ensemble.
Hellwig: Das bei „Chabos“ aus circa 60 Sprechrollen bestand.
Oha!
Beide (lachend): Oh ja!
Ist Ihre Arbeit mit dem ersten Drehtag dann beendet?
Hellwig: Im besten Fall sogar ein paar Wochen vorher, um Regie, Maske, Kostüm die Gelegenheit zu geben, genügend Zeit für ihre Vorbereitung mit den Schauspieler*innen zu haben. Weil es immer mal zu Umbesetzungen kommen kann, sind wir aber auch während des Drehs on hold. Präsent zu sein ist für uns einfach wichtig.
Dayanir: Wir befinden uns auch sonst später immer wieder im Austausch mit Regie und Produktion, Set-Besuche inklusive.
Unterscheidet sich all das eigentlich zwischen Pilcher, „Tatort“ oder „Chabos“?
Dayanir: Leidenschaft und Intensität in der Besetzung sind überall gleich groß. Was sich unterscheidet, ist der Rahmen: Manche Prozesse sind komplexer oder nehmen mehr Zeit in Anspruch, doch das Herzblut bleibt überall dasselbe.
Hellwig: Projekte unterscheiden sich generell durch ihre Besetzungen hinter der Kamera. Jede Regie, jede Produktion, jeder Sendeplatz, Sender, Streamer, Kinorelease und Stoff, hat andere Anforderungen, auf die man sich neu einlassen muss. Aber genau das ist schön, spannend und fordernd an unserem Beruf.
Wie oft gibt es zwischen Standard und Abweichung da Perfect Matches?
Hellwig: Der Anspruch ist zunächst natürlich immer das absolute Perfect Match, der Wunsch so nah wie möglich ranzukommen ist immer da. Und wenn’s klappt – geil!
Dayanir: Für mich führt der Magic Moment zum Perfect Match, eine Energie im Raum, die Verbindungen zwischen den Spieler*innen, die Impulse durch die Regie. Wer das spüren will, sollte unbedingt „Chabos“ streamen, solche Augenblicke sind das Herz unserer Arbeit. Don't miss it!