Herr Witte, wie groß haben Sie am 29. November 1970 die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt, dass der "Tatort" seinen Erfinder womöglich überleben wird?

Null Prozent; so langfristig hat man seinerzeit selten gedacht. Und wir wussten auch nicht, dass die Laufzeit eines solchen Projekts von der jährlichen Zustimmung der Direktorenkonferenz abhing. Da war keineswegs absehbar, wie begeistert die Direktoren von unserem "Tatort" sein würden. Also haben wir zwar von der Langfristigkeit geträumt – aber nicht mit ihr gerechnet.

Und andere – die Zuschauer etwa oder das Feuilleton?

Auch das war eine völlig offene Frage. Ich erinnere mich da noch gut an die Pressekonferenz vor der Ausstrahlung von "Taxi nach Leipzig". Von den paar Journalisten, die sich dorthin verlaufen hatten, fragte einer leicht gelangweilt, wie lang denn dieser Tatort überhaupt gesendet werden solle. Da meinte Horst Jaedicke, damals Programmdirektor des SDR, in seiner schwäbischen Gelassenheit: "So zwei Jahre hätten wir uns schon vorgestellt."

Hat das Fernsehen damals generell nicht langfristig gedacht?

Das schon; aber wir wussten nicht, wie sich das Format durchsetzen würde. Die unterschiedliche Rolle des Kommissars war unbestritten. Aber die Verbindung von Krimi und sozialkritischem Thema, die im Tatort auch stattfinden sollte, musste sich noch bewähren. Auch waren an dieser Variante nicht alle Sender besonders interessiert. Besonders wichtig aber war die Regionalität, die den einzelnen Ermittlern und ihren Geschichten ihr besonderes Gesicht gab, was auch den Charakter der einzelnen ARD-Sender ausdrücken konnte.

Damals standen die sich zwar zeitgenössisch in Blöcken gegenüber – weit rechts der Bayerische Rundfunk, angeblich rot der WDR, dazwischen ein sozialdemokratisch geprägter NDR.

Und heute?

Sind die Unterschiede nicht mehr so ideologisch, aber keineswegs verschwunden.

Alles andere hätte mich auch gewundert (lacht). Ich musste also versuchen, die alle an einen Strang zu kriegen. Und das ging nur mit landestypischen Storys ortsbezogener Kommissare – schon um dem Wesen der ARD als Verbund endlich mal Genüge zu leisten.

Und die noch relativ junge Republik bekam gleich noch die Chance, sich nach der Vereinheitlichung durch die Nazis und im Osten die DDR als vielfältig zu zeigen oder?

In der Tat! Das hat den Erfolg des Formats mit ausgemacht. Dennoch war zunächst ungeklärt, ob die Menschen ein Konzept mit neun Kommissaren verschiedener regionaler Prägung annehmen. Aber es gab praktisch nie eine ernstzunehmende Stimme, die sich darüber beschwert hätte. Von daher ist die Debatte, ob es wirklich noch einen und noch einen Ermittler aus einer noch kleineren Stadt geben muss, eine des Feuilletons. Die Zuschauer freuen sich über jeden neuen Kommissar.

"'Taxi nach Leipzig' war zunächst gar nicht als 'Tatort', sondern als gewöhnlicher Krimi konzipiert."
Gunther Witte, "Tatort"-Erfinder

Sehen Sie das als Ihr Verdienst an?

Na ja, der Verdienst meines Anschubs des Projekts. Ich war damals zwar ein bisschen verwirrt, dass Günter Rohrbach ausgerechnet mich gebeten hat, eine Krimiserie zu konzipieren, aber es lag wohl auch an meiner Beteiligung bei den Durbridge-Krimis.

"Das Halstuch", legendär.

Aber im Rückblick grauenvoll: langatmig, überall diese Pappkulissen, künstliche Atmosphäre, furchtbar! Verglichen damit wollten wir einfach realistischer sein. Jeder Fall sollte sich theoretisch genauso auch in der Wirklichkeit abspielen können. Und der Erfinder von Kommissar Trimmel, Friedrich Werremeier, war halt auch vorher schon ein gesellschaftskritischer Autor. "Taxi nach Leipzig" war zunächst gar nicht als "Tatort", sondern als gewöhnlicher Krimi konzipiert; der wurde dann einfach ins Programm geworfen und alle anderen kamen hinterher.