Warum schließt diese Zeit eigentlich nicht unmittelbar ans Geschehen der ersten Staffel Ende des 19. Jahrhunderts an?

Schön: Virchow, Koch, Behring, Ehrlich aber auch erfundene Figuren wie Ida, Hedwig, Oberin Martha und Therese haben allesamt die Klinik verlassen oder sind tot. Wir hätten uns also fragen müssen, wie man mit neuem, erfundenem Personal nahtlos ans alte anschließt und andere Themen erzählt. Nochmals Kaiser, Burschen, Nobelpreisträger, Diakonissen? Das wäre redundant geworden…

Durch den Sprung ins Jahr 1943 denkt man dagegen: och nö, schon wieder Nazis…

Thor-Wiedemann: Wir sind überzeugt, im Bereich Medizin Aspekte dieser Zeit zu erzählen, die einem breiten Publikum bisher nicht bekannt sind.

Schön: Und zwischen den Nobelpreisträgern 1888 und Sauerbruch zur NS-Zeit gibt es keine Mediziner an der Charité, die so bekannte Namen tragen. Die Redaktion wollte dem Erzählprinzip der ersten Staffel, berühmte historische Figuren mit erfundenen Figuren zu kombinieren, aber treu bleiben nach dem sensationellen Quotenerfolg.

Thor-Wiedemann: Wir hatten auf fünf Millionen Zuschauer gehofft. Mit durchschnittlich siebeneinhalb Millionen hat niemand gerechnet.

Schön: Wer das geahnt hätte, hätte vielleicht den Mut gehabt, mit kleinerem Zeitsprung jenseits großer Namen weiter zu erzählen. Aber wer sagt denn, dass man die Serie chronologisch entwickeln muss? Die Charité ist 309 Jahre alt; da ist von Friedrich dem Großen über die Napoleonischen Kriege bis in die Charité anno 2080 jeder Zeitsprung möglich.

Bleiben Sie dem Projekt denn in jeder Epoche als Zwei-Personen-Writers-Room erhalten?

Thor-Wiedemann & Schön: Leider nein.

Gab es Überlegungen, das Buch zweier Frauen von einer Regisseurin drehen zu lassen?

Schön: Von uns aus spräche nichts dagegen, aber für diese Staffel war Anno Saul von Beginn an unser Wunschregisseur. Er hat ein großartiges Gespür für Grautöne der Geschichte, und als Arztsohn bringt er Verständnis für medizinische Fragen mit. Die Zusammenarbeit hat großen Spaß gemacht.

Thor-Wiedemann: Und er war von Anfang an Feuer und Flamme für unsere Bücher. Bessere Voraussetzungen gibt es kaum, unabhängig vom Geschlecht.

Schön: Andererseits haben mich die Zahlen der MaLisa-Stiftung über weibliche Unterrepräsentation in der Branche schon erschreckt. Auch ich saß ja in meiner Bubble und dachte, alles sei doch auf bestem Wege. Wenn man dann liest, dass Frauen seit langem 50 Prozent der Studierenden an den Filmhochschulen ausmachen, aber nur 15 Prozent der Regie- und Buchaufträge bekommen, ist noch viel zu tun. Das heißt nicht, dass ich einen hervorragenden Regisseur wie Anno nicht will, weil er ein Mann ist. Aber es gibt eben auch talentierte Frauen, die nicht zum Zuge kommen. Deshalb unterstütze ich ProQuoteFilm. Wir müssen uns alle selbst fragen, inwiefern wir Teil des Problems oder der Lösung sind.

Und die Antwort?

Schön: Wir alle reproduzieren unbewusst Stereotype. Beim Stichwort „Chef“ denkt jeder an einen weißen älteren Mann, nicht an eine junge schwarze Frau. Ich habe zum Beispiel früher in meinen „Tatort“-Büchern meist intuitiv von „Arzt“ und „Krankenschwester“ geschrieben, die der Kommissar im Krankenhaus befragt – keine Ärztin, kein Krankenpfleger. Von meiner Tochter, selbst Ärztin, weiß ich, dass das Geschlechterverhältnis in der Ärzteschaft vieler Kliniken mittlerweile ausgeglichen ist. Die Darstellung im Fernsehen hinkt in vielen Bereichen der Realität hinterher.

Thor-Wiedemann: Ziel sollte sein, dass Filme mit einer gewissen Beiläufigkeit eine größere Bandbreite an Rollenmöglichkeiten abbilden und nicht immer Stereotypen reproduzieren, die längst überholt sind.

Schön: Als der BR Ende der Achtziger den Nachfolger vom „Tatort“-Kommissar Sedlmayr suchte, hab ich ein Team aus altem Grantler und junger Kollegin vorgeschlagen. Der Fernsehspielchef meinte nur: Eine Frau als Kommissarin? In Bayern? Für unser Publikum unvorstellbar! Als bald nach Ulrike Folkerts eine Kommissarin nach der anderen kam, dachte ich, jetzt muss man langsam um die Männer fürchten. Doch dann habe ich mal durchgezählt und siehe da: Der Frauenanteil lag nie über einem Drittel! Das gab mir zu denken.

Welcher reale Charité-Akteur jenseits vom sozialen und geschlechtlichen Mainstream eignet sich daher theoretisch für eine Fortsetzung?

Schön: Etwa die Jüdin Rahel Hirsch. Als erste Professorin bekam sie in den Zwanzigern nur unter der Bedingung einen Lehrstuhl, dass sie auf Honorar verzichtet. Sie lebte von ihren Privatpatienten.

Thor-Wiedemann: Oder Ingeborg Rapoport, die als jüdische Kommunistin erst vor den Nazis in die USA geflohen war, dann vor McCarthy in die DDR. Spannende Frauenfiguren gibt es also.