Amazon-Kunden in den USA und Großbritannien haben zurzeit mal wieder die Qual der Wahl. Während der dritten "Amazon Pilot Season", die über die nächsten Wochen läuft, dürfen sie aus zwei Drama- und drei Comedy-Piloten ihre neuen Wunschserien küren. Das ist ein aufmerksamkeitsstarker Weg, um die Fiction-Kompetenz des Online-Handels-Multis zu unterstreichen. Hervorgebracht hat er in den ersten beiden Ausgaben im Herbst 2013 und Frühjahr 2014 die Drama-Serien "The After" und "Bosch" sowie die Sitcoms "Alpha House", "Betas", "Transparent" und "Mozart in the Jungle".

"Wenn die Leute eine Show lieben, werden wir die Show machen", lautet das Credo von Roy Price, Chef der Amazon Studios. Theoretisch könnten alle fünf Piloten in Serie geschickt werden – das hängt von den Abrufzahlen, Bewertungen, Kommentaren und Fragebogen-Antworten der "Pilot Season"-Teilnehmer ab. Obwohl Amazon Instant Video seit Februar auch hierzulande für Amazon-Prime-Kunden verfügbar ist, sind deutsche Nutzer nicht zum Voting eingeladen. DWDL.de hat das Angebot dafür umso genauer unter die Lupe genommen.

Mit "Hand of God" gibt Oscar-Preisträger Marc Forster ("Monster's Ball", "World War Z") sein Serien-Debüt. Der Schweizer Regisseur führt ein exzellentes Schauspieler-Ensemble durch ein teils mysteriöses, teils knallhartes Psychodrama. Allen voran Ron Perlman ("Hellboy", "Sons of Anarchy") als korrupter Richter Pernell Harris, der nicht damit fertig wird, dass seine Schwiegertochter sieben Monate zuvor von einem Unbekannten vergewaltigt wurde – vor den Augen seines Sohnes, der nach einem Selbstmordversuch nun im Koma liegt. Zum Entsetzen seiner Frau Crystal, gespielt von Dana Delany ("Body of Proof"), schließt er sich der dubiosen Sekte "Hand of God" an und glaubt nach einem Zusammenbruch, Gott höchstpersönlich leite ihn durch Zeichen und Stimmen auf einen brutalen Weg der Selbstjustiz.

Amazon's Hand of God© Amazon

Das zweite Drama-Angebot, "Hysteria", ist ein düsterer Mystery-Thriller mit Mena Suvari ("American Beauty") in der Hauptrolle. Sie spielt die Top-Psychologin Logan Harlen, die in ihre Heimatstadt Austin/Texas gerufen wird, als dort ein unerklärlicher Ausbruch scheinbar ansteckender Konversionsstörungen unter Jugendlichen passiert. Die Betroffenen zeigen neurologische Symptome wie Krämpfe oder Anfälle, ohne selbst körperliche Ursachen zu haben – offenbar weil sie die Schmerzen einer anderen, ihnen nahe stehenden Person fühlen.

Logan selbst wird in Austin mit ihrer traumatischen Vergangenheit konfrontiert: Als Kind verlor sie ihre beste Freundin, als diese entführt und ermordet wurde. Logans Bruder wurde damals für die Tat verurteilt und wartet in der Todeszelle auf seine bevorstehende Hinrichtung. Am Ende des Piloten wird klar, dass die Ausbreitung der Anfälle mit der Social-Media-Nutzung zu tun hat – genauer gesagt: mit dem Anschauen eines YouTube-Videos, in dem ein leidendes, zuckendes Mädchen zu sehen ist. Ein Anflug von Sozial- und Medienkritik dürfte neben der Spannung von einer Staffel zu erwarten sein.

Von einer Mischung aus liebevollem Zeitkolorit und skurrilen Typen lebt die Nostalgie-Comedy-Serie "Red Oaks", die in dem gleichnamigen Country Club in New Jersey in den 80er Jahren spielt. College-Student David (Craig Roberts) genießt den Sommer dort als Assistenz-Tennistrainer in vollen Zügen, bevor der Ernst des Lebens beginnt und er sich entscheiden muss, was er von seinem Leben will. In dem von Steven Soderbergh produzierten Piloten spielt Paul Reiser ("Verrückt nach dir") den spleenigen Club-Inhaber, Jennifer Grey ("Dirty Dancing") und Richard Kind ("A Serious Man") geben Davids streitlustige Eltern.

Humor-Kostprobe: Als Vater Sam beim Tennismatch gegen seinen Sohn einen Herzinfarkt erleidet, gesteht er in seinen vermeintlich letzten Sekunden, dass er sich schon vor Jahren hätte scheiden lassen sollen und dass seine Frau vermutlich lesbisch sei. Schon in der nächsten Szene liegt er putzmunter im Krankenhausbett – und beide streiten wie die Kesselflicker. Peinliche Situationen scheinen Davids Los zu sein.

Eine Gruppe junger Amerikaner, die nach Paris ausgewandert sind, bildet den Dreh- und Angelpunkt der Dramedy "The Cosmopolitans". Sie suchen nach Liebe und Freundschaft, drohen jedoch schnell wieder in dem Gefühlswirrwarr zu landen, den sie mit dem Ortswechsel eigentlich hinter sich lassen wollten. Mit dem Unterschied, dass diesmal noch Französinnen und Franzosen involviert sind. Ein gemischtes Ensemble beider Nationalitäten, darunter Adam Brody und Chloë Sevigny, spielt gekonnt mit den Klischees in diesem stylish inszenierten Piloten, der etwas von "Gossip Girl" meets "Before Sunset" hat.

Etwas flach kommt allein der Pilot zur Comedy-Serie "Really" daher, bei dem sich Jay Chandrasekhar ("Psych", "Royal Pains") als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller austoben darf. Seine Absicht, die emotionalen und psychologischen Abgründe der Ehe anhand mehrerer befreundeter Thirty-Something-Pärchen aufs Korn zu nehmen, endet in einem Saufgelage sowie im ständigen Schwadronieren – und gelegentlichen Praktizieren – von Blowjobs.

Qualitativ legen die Amazon Studios damit ihre bislang stärkste und stilistisch entschiedenste Pilot Season vor – mit "Hand of God" als klarem Flaggschiff. In den ersten fünf Tagen hinterließen 122 Nutzer eine Besprechung der Marc-Forster-Serie, die durchschnittliche Bewertung liegt bei 4,5 von 5 Sternen. "Mind-blowingly good" oder "Best new show of 2014" lauten zwei der euphorischen Kommentare. Bei "Hysteria" ist der Zwischenstand 51 Besprechungen und 3,9 von 5 Sternen, bei "Red Oaks" 48 Besprechungen und 4,4 Sterne, bei "The Cosmopolitans" 71 Besprechungen und 3,5 Sterne. "Really" liegt mit bislang 28 Besprechungen und 3,0 Sternen klar zurück. Zusätzlich ist jeder Zuschauer aufgerufen, einen kurzen Fragebogen zu beantworten, in dem u.a. die Wahrscheinlichkeit des späteren Abrufs weiterer Folgen oder der Wunsch, sofort weiterzugucken, abgefragt werden.

Rechnet man die Staffel-Produktionen von "Transparent", "Mozart in the Jungle", "Bosch" und "The After" aus der vorigen Pilot Season sowie die zweite Staffel von "Alpha House" mit ein, so investiert Amazon allein im dritten Quartal rund 100 Millionen Dollar in seine eigenen Serien. "Wir geben unseren Shows die Mittel, die sie brauchen, um großartig zu werden", gab Amazon-Studios-Chef Roy Price unlängst im "Hollywood Reporter" zu Protokoll. Und fügte mit Seitenhieb aufs Fernsehen hinzu: "Bei Amazon werden keine Serien abgesetzt. Es gibt kein Szenario, in dem Sie drei Folgen drehen und wir Ihre Serie dann canceln. Sie werden die komplette Staffel wie geplant durchziehen können."

Bei den Release-Strategien der neuen Serien zeigt Price sich experimentierfreudig. Während die Sitcoms "Alpha House" und "Betas" noch im Wochenrhythmus mit je einer neuen Episode erschienen, soll "Transparent" in Kürze à la Netflix mit allen zehn Folgen auf einen Schlag abrufbar sein. Der SciFi-Thriller "The After" von Chris Carter kommt Anfang 2015 in vier Blöcken à zwei Stunden.