"Der Segen des Internets und seiner sozialen Netzwerke ist sein größter Fluch. Wir lesen alles und wissen doch nichts." In einem Blog-Eintrag schilderte Moderator Daniel Bröckerhoff vor wenigen Tagen seine Eindrücke vom Abend der blutigen Terroranschläge von Paris, an dem er eigentlich für "heute+" im ZDF vor der Kamera hätte stehen sollen. Doch es kam anders: Das ZDF verzichtete an besagtem Abend auf eine Ausstrahlung von "heute+" und setzte stattdessen auf das "heute-journal". "Wir machen Fernsehen mit begrenzten Mitteln", sagt Elmar Theveßen, Nachrichtenchef des ZDF, im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de mit Blick auf die Entscheidung, Marietta Slomka auf Sendung zu schicken. "Es ging auch darum, Kontinuität und Ruhe zu verbreiten."

Als Kritik an der Mannschaft von "heute+" will Theveßen das aber nicht verstanden wissen. Diese habe ihre Arbeit ja nicht eingestellt, sondern sich im Netz um die Interaktion mit Usern gekümmert. "Die Idee dahinter war, einen Anlaufpunkt zu bieten, an dem man sich austauschen kann, an dem man sich nicht so allein fühlt und natürlich noch dazu live informiert wird", sagt Daniel Bröckerhoff, der an diesem Abend für die Sendung im Einsatz war, rückblickend. "Außerdem wollten wir einen Einblick bieten, wie eine Nachrichtenredaktion in solchen Situationen arbeitet." Theveßen spricht von einer "guten Aufgabenteilung", doch der erste echte Breaking-News-Abend seit dem Start vor ziemlich genau einem halben Jahr blieb den "heute+"-Machern damit trotzdem erst mal verwehrt.

Dennoch vermittelt der stellvertretende Chefredakteur glaubhaft den Eindruck, nach wie vor an das junge Nachrichten-Format zu glauben, das seit Mai als Ersatz für "heute nacht" zu später Stunde im ZDF läuft - und darüber hinaus auch um 23 Uhr im Livestream, sofern das Studio nicht gerade von den Kollegen des "heute-journals" belegt ist. "Es gab bislang schlicht kein Nachrichtenformat, das von den sozialen Medien aus gedacht wurde und dann auch im Fernsehen funktionierte", erklärt Elmar Theveßen die Beweggründe, ein in vierlei Hinsicht ungewöhnliches Format wie "heute+" gestartet zu haben. Moderator Daniel Bröckerhoff gibt sich in diesem Punkt allerdings selbstkritisch: "Schwächen haben wir sicher noch in dem Spagat, sowohl eine Nachrichtensendung im Fernsehen zu sein als auch eine Sendung, die das Netz bespielt. "

"Dass die Quoten zurückgegangen sind, lässt uns nicht lustig zurück."
Elmar Theveßen, stellvertretender ZDF-Chefredakteur

Es zeige sich, dass die Inhalte, die eher in die Rubrik "Nachrichtenfernsehen" fallen, im Netz nicht so gut funktionieren. "Umgekehrt sind viele Beiträge, die im Netz toll laufen eher nicht klassisch nachrichtlich, es sei denn es handelt sich um Breaking News oder exklusive Meldungen. Aber die sind ja eher selten", so Bröckerhoff. Und doch zeigt man sich beim ZDF ein halbes Jahr nach dem Start glücklich. "Wir sind extrem zufrieden mit dem Zuspruch - vor allem bei den Jüngeren", betont ZDF-Nachrichtenchef Elmar Theveßen. Durch den Blick auf die Quoten ist diese Aussage zunächst mal jedoch nicht gedeckt. Mit seinem Spätnachrichten verzeichnete das ZDF zwischen Januar und Oktober bislang nur einen Marktanteil von 8,3 Prozent, vor einem Jahr waren es dagegen noch 9,6 Prozent. "Dass die Quoten zurückgegangen sind, lässt uns nicht lustig zurück. Natürlich hätten wir gerne einen Zuwachs."

Allerdings habe 'heute nacht' im vorigen Jahr stark von der Fußball-Weltmeisterschaft profitiert, gibt Theveßen zu bedenken. In diesem Jahr sei die Nutzung des ZDF-Spätprogramms hingegen generell nicht so hoch wie 2014. "Die Verluste von 'heute+' sind identisch mit den Verlusten der Vorlaufprogramme, von denen die Sendung zwangsläufig abhängig ist." Er sei jedoch "sehr optimistisch", den Rückgang im Fernsehen zum Jahresabschluss noch ein Stück weit ausgleichen zu können, immerhin sei der Oktober mit im Schnitt 9,0 Prozent Marktanteil der bislang erfolgreichste für "heute+" gewesen. Der Zusatz "im Fernsehen" ist wichtig, denn beim ZDF interessiert man sich nicht zuletzt dafür, wie die junge Sendung im Netz ankommt, also bei denjenigen, die sich sonst nicht zwangsläufig für Nachrichten-Inhalte vom Lerchenberg erwärmen können.

Wie viele die Sendung im Stream verfolgen, weiß Theveßen nicht. "Hochunzufrieden" sei er, weil bislang nur die Zahlen für die Desktop-Nutzung vorlägen. Erst im kommenden Jahr wird es Aufschluss darüber geben, ob "heute+" tatsächlich auf mobilen Endgeräten konsumiert wird. Hoffnung, dass der Ansatz aufgehen wird, schöpft Elmar Theveßen aus den sozialen Netzwerken. 62 Prozent der Facebook-Follower von "heute+" seien zwischen 18 und 34 Jahre alt, einzelne Beiträge kämen auf bis zu 2,5 Millionen Abrufe. "Mit einem Zehntel der 'heute'-Follower erreicht 'heute+' schon heute auf Facebook eine doppelt so hohe Interaktionsrate. Diese Zahl lässt sich im nächsten halben Jahr ganz sicher noch deutlich ausbauen", ist sich Theveßen im Gespräch mit DWDL.de sicher.

Hilfreich ist das Internet nicht zuletzt, weil es als Rückkanal dient. "Seitdem wir die Sendung auch auf Periscope streamen und direktes Zuschauerfeedback bekommen mag ich die Ausstrahlung im Netz lieber", sagt Moderator Daniel Bröckerhoff. "Wir erreichen dort derzeit zwar nur einen Bruchteil der Zuschauer, aber ich habe viel mehr das Gefühl tatsächlich für ein Publikum zu senden, das sich auch für unsere Themen interessiert und sich austauschen will. Das ist ungemein befriedigend für mich." Mindestens zwei Mal am Tag streamt die Redaktion inzwischen auf Persicope und Facebook und inzwischen werden Kommentare regelmäßig in die Sendung eingebunden. Ein Vorteil, auch für Bröckerhoffs Kollegin Eva-Maria Lemke. "Normalerweise steht man im Studio in dieser realitätsentrückten Kunstwelt - so wird man immer wieder daran erinnert, für wen man das eigentlich macht", sagt sie. "Das ist wie Studiopublikum - allerdings eins mit Megafon."

Eva-Maria Lemke und Daniel Bröckerhoff© ZDF/Jule Roehr

Eva-Maria Lemke und Daniel Bröckerhoff moderieren "heute+"

So etwas wie eine Sendepause habe man durch den Social-Media-Output quasi nie, erklärt Lemke und hofft, gerade mit der Livestream-Ausgabe noch mehr experimentieren zu können. "Anscheinend sprechen wir dort ein anderes Publikum an, das bereit ist, noch viele Meter weiter vom herkömmlichen Nachrichtenformat abzurücken." Gleichzeitig will sie dem Klischee entgegenwirken, wonach die "Frau im Fernsehen" allwissend sei - indem sie auch mal sagt, dass sie zu einem Thema noch keine abgeschlossene Meinung habe. "Ich glaube, wir sind im besten Sinne nahbar. Und das gefällt den meisten." Seit dem Start hat die Mannschaft von "heute+" aber auch auf Kritik reagiert. "Wir haben bemerkt, dass die jüngeren Zuschauer, die wir ja vor allem erreichen wollen, sich schnell angekumpelt fühlen, wenn man als Nachrichtenmoderator zu umgangssprachlich wird", sagt Eva-Maria Lemke. "Das weckt bei manchen den Eindruck, wir nehmen sie und unsere Sache nicht ernst genug."

Daher wurde die Kumpel-Ansprache ein Stück weit gedrosselt. "Nachrichten sind eben das, was im Fernsehen am stärksten formatisiert ist. Dass wir den Tisch und die kreditwürdigen Klamotten weglassen, ist für viele schon gewöhnungsbedürftig genug", sagt die Moderatorin gegenüber DWDL.de. Daniel Bröckerhoff sieht das ganz ähnlich. "Ich glaube, wir haben uns stärker verändert als wir das selber wahrnehmen, weil wir so nah dran sind", sagt er. "Viele Zuschauer waren auch verwirrt, weil es so ungewohnt ist, dass dort jemand steht und sich an nichts festhält, dass sie gefordert haben: 'Gebt ihnen doch bitte Kärtchen!' Aber genau das wollen wir ja nicht. Ich hab allerdings schon Angst vor dem Tag, an dem der Prompter ausfällt. Er wird kommen."

ZDF-Nachrichtenchef Elmar Theveßen hofft indes, dass "heute+" eine Art Signalwirkung haben wird. "Die Sendung ist seit ihrem Start zu einer Experimentierwerkstatt geworden, in der wir ganz viele neue Erzählweisen ausprobieren. Das hat sich auf die Kollegen in den In- und Auslandsstudios übertragen", erzählt er im Gespräch mit uns. "Unser Ziel ist es, am Ende des Tages eine andere Perspektive einzunehmen als das bei 'heute' oder 'heute-journal' der Fall ist. Wir haben die Vorbereitungszeit dafür anfangs allerdings unterschätzt. Inzwischen sind wir dazu übergangen, auch konventionelle Stücke in die Sendung einzubauen, wenn sich noch am Abend wichtige Themen ergeben, die wir auf die Schnelle nicht mit einem eigenen Ansatz angehen können. In solchen Fällen ist die Vermittlung der Grundinformation wichtiger als die Verwendung besonderer Stilmittel."  Nachrichten bleiben eben auch in Zeiten sozialer Netzwerke vor allem eines: Handwerk.