Mit Ketamin, kurz Keta, werden normalerweise Pferde betäubt, keine Menschen. Aber was ist schon normal in einer Zeit, die ihrer Jugend auferlegt, mit Klimawandel, Kriegsgefahr, Dauerkrise im Kreuz künftig drei Rentner zu finanzieren, vorher noch Wehrdienst zu leisten und zunächst ein glattes Einser-Abi hinzulegen. Sonst: Bürgergeld. Das dann indes nur noch Essensmarken plus Mehrbettzimmer umfasst, falls Kanzlerin Weidel die türkischstämmige Mila bis dahin nicht längst remigrieren ließ.
Als der 17-jährige Jannis seiner ähnlich jungen Bekanntschaft nachts auf einer Schaukel Keta anbietet und die Frage nach dessen Wirkung mit „holt dich aus deinem Kopf raus“ beantwortet, muss sie deshalb nicht lang zögern und zieht. Ihr Leben, das hat Mila uns bis dahin 45 Minuten lang erklärt, ist schließlich ebenso „fucked“ wie die Welt ringsum. Warum beides also nicht mit Beruhigungsmitteln für Tiere sedieren? Früher hätte man geantwortet: Weil sie es bei RTLplus tut. Ach, früher…
Früher war RTLplus ein Tittensender mit Heißem Stuhl, aber die Welt ringsum auf gutem Weg, friedlicher zu werden. Gerechter. Besser. Dutzende globaler Katastrophen später hat sich das Verhältnis gedreht. Die Welt ist auf fürchterlichem Weg Richtung Apokalypse, aber RTL+ ein Streamingdienst, der mitunter fabelhaftes Fernsehen drehen lässt. In diesem Fall: "Euphorie", was nicht zufällig an "Euphoria" erinnert. Sechs Jahre, nachdem HBO das israelische Original zur eindringlichsten Highschool-Serie aller Zeiten amerikanisiert hat, versuchen sich die Kölner also an einer deutschen Variante.
Vor sechs Jahren wäre das einem Freilos für Fremdscham in acht Teilen gleichgekommen. Nach guter, teils preisgekrönter Unterhaltung wie "Faking Hitler" und "Legend of Wacken", "Ich bin Dagobert" oder "Zeit: Verbrechen" liegt die Messlatte jedoch fast auf Apple-Niveau. Und Zeitsprung Pictures emanzipiert sich im RTL-Auftrag nicht nur inhaltlich von den zwei Vorlagen; der Writers Room von Headautor Jonas Lindt hat Drehbücher mit dem Potenzial zur fesselnden Gesellschaftsanalyse geschrieben.
Weil Mila (Derya Akyol) nach der Veröffentlichung eines Sexvideos aus medizinischer Sicht suizidgefährdet war, landet sie in der geschlossenen Psychiatrie. Als die 16-Jährige ans Gelsenkirchener Gymnasium zurückkehrt, hat sich allerdings nicht nur sie verändert. Ihr Soziotop um Influencerin Chiara (Vanessa Velemir Diaz) geht auf Distanz. Die Klinik-Vertraute Ali (Sira-Anna Faal) ist verschwunden. Der Nachwuchsschauspieler Jannis (Eren M. Güvercin) scheint die Lücke zwar zu füllen, ist nur leider exakt so abgefuckt, wie sie es nicht mehr sein will, sein darf, aber sein muss. Und so schlittert Mila in dieselben Selbstzerstörungsmuster wie zuvor.
Unvermeidlich, so scheint es. Denn "das hier ist Deutschland", sagt sie aus dem Off. "Da wird man groß, indem man mit 14 auf Vodka-O in Papis Garten kotzt." Ein polytoxikomanes Ambiente lebenswunder Seelen, in dem "alle einen Schaden haben", wie Mila meint: "Meine Mutter, mein Vater, jeder in meiner Schule, auch du und alle die du kennst." Warum genau, zeigen die jungen Regisseure Antonia Leyla Schmidt und André Szardenings in einer hochenergetischen Mischung aus Kammerspiel und Milieustudie voller Aus- und Rückblicke.
Wie es sich im Young-Adult-Fach gehört, mit einer tüchtigen Prise Anime, aber ohne das didaktische Pathos deutscher Empowerment-Stoffe. Schon darum ist in "Euphorie" selten klar, wer hier eigentlich disruptiver, dysfunktionaler, abgefuckter ist: Die Kinder oder ihre Eltern? Die Gesellschaft oder ihre Regeln? Die Machtverhältnisse oder ihre Ohnmachtsverhältnisse? Alles acht rauschhafte Folgen lang ebenso unterhalt- wie bedeutsam in der Schwebe zu halten, ist das größte Verdienst dieser grandiosen Serie.
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Drogen- und neurosenbefeuert, speisen Zuflüsse wie "Grand Army" oder "Everything Now" dabei den Hauptstrom Coming-of-Age genannter Adoleszenz-Fiktionen mit Pubertätsdystopien, die keinerlei Gefühlsduselei dulden. Dass sich "Euphorie" qualitativ nicht mal hinter Sam Levinsons gefeierter US-Version "Euphoria" verstecken muss, liegt da vor allem an Jonas Lindt. Mit feinem Gespür für die Generation Z, skizziert er sie sowohl als Opfer ihrer Realität (Corona, Kapitalismus, AfD) als auch der zugehörigen Realitätsflucht (Exzess, Liebe, Internet). Kaum weniger wichtig ist jedoch sein herausragender Cast.
Assistiert von einer erlesenen Riege erwachsener Nebenfiguren (Aaron Altaras, Karin Hanczewski, Slavko Popadic), überzeugen absolut alle jungen Hauptdarsteller auf angloamerikanischem Niveau. Und wie Sira-Anna Faal, bekannt aus der Disney-Serie "Pauline", Alis Angst vor der Liebe und ihrem Verlust bis zur Schmerzgrenze spürbar macht, ist sogar noch überwältigender als Derya Akyols autoaggressive Achterbahnfahrt zu Lasten aller. Dass deren Off-Kommentare zuweilen leicht hölzern klingen – egal. Wer ohne Makel dreht, werfe den ersten Stein!
Gelsenkirchens Partyszene ist vielleicht ein bisschen zu Berghain, ihr Kokskonsum ein bisschen zu Brooklyn, die schulische Diversität ein bisschen zu „Sex Education“. Aber solche Überspitzungen beschreiben umso nachdrücklicher, wie sich die ersten Kinder, denen es seit dem 1. Weltkrieg kollektiv schlechter gehen wird als Mama und Papa, von Krise zu Krise hangeln. Unterm Beobachtungsdruck aller fliehen sie in 1.000 Süchte nach Bestätigung, Eskapismus, Drogen, Aufmerksamkeit, Lustgewinn und finden doch nirgends Befriedigung, geschweige denn Erlösung.
Dafür hortet RTL+ von der privilegierten Streberin übers mehrgewichtige Mauerblümchen bis zum übergriffigen Schulhofschwarm zwar standardisierte Archetypen. Casterin Liza Stutzky hat sie freilich mit Nachwuchskräften besetzt, die jedes ihrer Klischees in Grund und Boden spielen. Dass viele davon migrantisch geprägt sind, ohne migrantische Stereotypen zu reproduzieren, ist dabei nur der vordergründigste unzähliger Gründe, die "Euphorie" sehenswert machen. Oder in Jannis‘ Worten: Die Serie holt dich aus deinem Kopf!
Alle acht Folgen von "Euphorie" stehen bei RTL+ zum Streamen bereit