"Fernsehen ist kein 'Auslaufmodell'", meldeten ARD und ZDF in der vergangenen Woche anlässlich der Publikation ihrer 50. "Studie Massenkommunikation", in der Jahr für Jahr die Medien-Nutzungsgewohnheiten der Deutschen erforscht werden. Und vielleicht ist das Beachtenswerte daran, dass man's überhaupt noch mal betonen muss: "Zur Medienzukunft befragt, stimmen die Menschen mit großer Mehrheit zu, dass Fernsehen und Radio auch in zehn Jahren bedeutsam sein werden und insbesondere auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Zukunft unverzichtbar bleibt."

Womöglich ist die Bemerkung aber auch einfach eine Referenz an die vielen Journalisten, die seit zwölf Monaten den Untergang des Fernsehens herbei schreiben und dafür einen Konzern aus dem amerikanischen Los Gatos verantwortlich machen. Der Untergang allerdings hat offensichtlich Verspätung.

Am 16. September 2014, vor genau einem Jahr, startete Netflix sein Video-on-Demand-Angebot in Deutschland und bietet Abonnenten – so wie zahlreiche Wettbewerber – eine Alternative zum linearen TV-Programm der Sender und deren Mediatheken. Netflix ersetzt das klassische Fernsehen keineswegs. Aber es macht ihm, vor allem in der Unterhaltung, durchaus Konkurrenz. Zumal es angesichts vieler Hardware-Lösungen, von Googles Chromecast über Amazons Fire TV bis zu Apples neuer TV-Box, inzwischen selbstverständlich ist, Video on Demand-Inhalte aus dem Netz auch auf älteren TV-Geräten abspielen zu können.

Verlässliche Zahlen zum Erfolg der Streaming-Dienste gibt es nicht. Als Erfolg lässt sich das erste Netflix-Jahr trotzdem betrachten: Kein anderes Unternehmen steht so sehr für die Transformation des Bewegtbildmarkts. Netflix wird in der Öffentlichkeit als Gegenpol zum teilweise kraftlos wirkenden Programm der etablierten Sender wahrgenommen. Die reagieren auf die Zersplitterung der Aufmerksamkeit des Publikums gerade, indem sie immer mehr vom selben produzieren. Das funktioniert nur bedingt, wie RTL und Sat.1 mit Klonen der eigenen Erfolgsshows und neuen täglichen Serien gerade leidvoll erfahren.

Netflix verlässt sich auf das Prinzip Einfachheit: ein stabiles Angebot ohne Schnickschnack.

Dabei ist es auch nicht so, als sei Netflix in Deutschland bislang mit drastischen Innovationen aufgefallen. Für Schlagzeilen sorgte die kürzlich erfolgte Ankündigung, das Standard-Abo um 1 Euro pro Monat zu erhöhen (auf immer noch recht erschwingliche 9,99 Euro; DWDL.de berichtete). Und im Bild vieler Städte war Netflix in den vergangenen Monaten mit Werbeplakaten für seine "Originals"-Produktionen dauerpräsent. Doch während Konkurrent Amazon kontinuierlich versucht, sein Prime Instant Video mit neuen Features auszustatten (wie zuletzt die Download-Funktion für Filme und Serienepsioden), verlässt sich Netflix auf das Prinzip Einfachheit: Das Angebot soll stabil auf möglichst vielen unterschiedlichen Plattformen laufen, ohne Schnickschnack. Im Sommer wurde die Web-Oberfläche im Browser der aus den TV-Apps angepasst, damit Zuschauer leichter für sie relevante Inhalte finden.

Die Konzentration aufs Wesentliche kann sich Netflix leisten, weil der technische Standard schon zum Markstart vergleichweise hoch war. Zum Start neuer Serien sind verlässlich Untertitel und deutsche Synchronfassungen verfügbar, während Amazon zum Teil Monate hinterher ist und gerade mühsam an einer Vereinheitlichung der Tonspur-Versionen arbeitet (DWDL.de berichtete). Auch mit der wenig intuitiven Browser-Übersicht für Prime-Videos hat Amazon das Nachsehen.

Zugleich verzichtet Netflix darauf, sich auf ein teures Wettrennen um Exklusiv-Lizenzserien in Deutschland einzulassen. Eine Ergänzung der deutschsprachigen Inhalte scheint auch nicht besonders weit oben auf der Prioritätenliste zu stehen. Seit dem Launch scheint sich die Auswahl kaum verändert zu haben: "Stromberg – Der Film", "Mord mit Aussicht", Dieter Nuhr, "Pastewka", "Ladykracher" und Til-Schweiger-Filme. Nicht gerade ein umfassender Fundus deutschsprachiger TV-Kostbarkeiten. Auch Amazon glänzt in dieser Hinsicht nur bedingt, bemüht sich aber sichtbarer darum, den eigenen Dienst mit TV-Klassikern anzureichern. Mag sein, dass nicht täglich tausende Nutzer "Traumschiff"-Folgen von 1999 streamen wollen – aber die VoD-Flatrates zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie auch abseitigere Inhalte bieten. Selbst für Nutzer, die gerne sechzehn Jahre jüngeren Versionen von Heide Keller und Siegfried Rauch beim Anlegen in Tahiti zusehen wollen.

"Our goal is to provide great movies and TV series for all tastes, that are only available on Netflix."

Netflix-Chief-Content-Officer Ted Sarandos

Womöglich hat Netflix erkannt, dass länderspezifische TV-Inhalte bei der eigenen Weiterentwicklung nur eine untergeordnete Rolle spielen werden. Das erklärte Ziel von CEO Reed Hastings ist es, seinen Dienst weltweit in möglichst vielen Ländern verfügbar zu machen. (Als nächstes stehen Korea und Südost-Asien auf der Liste.)

Und Chief Content Officer Ted Sarandos deutet immer wieder an, sich vom Kampf um teure Lizenzrechte verabschieden zu wollen und Budgets stattdessen für die Produktion eigener Inhalte einzuplanen. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass Netflix künftig Blockbuster wie "Hunger Games: Catching Fire" und "World War Z" dem US-Wettbewerber Hulu überlassen wird, um mehr Eigenes zu machen. "Our goal is to provide great movies and TV series for all tastes, that are only available on Netflix", erklärte Sarandos der Nachrichtenagentur AP zufolge.

In der Tat ist Netflix auf dem Weg von der Streaming-Plattform zum Entertainment-Produzenten weiter als jeder Konkurrent. "Sense8", "Daredevil", "Marco Polo", "Bloodline", "Grace and Frankie" und "Unbreakable Kimmy Schmidt" sind bloß einige der Serien-Neustarts aus dem vergangenen zwölf Monaten. Dazu kommen Dokumentationen, Filme, Comedy-Specials. Dass die meisten davon amerikanischen Ursprungs sind, scheint den deutschen Nutzern egal zu sein. Jedenfalls so lange eine Synchronisation angeboten wird. (Ist ja beim "Big Bang Theory"-Dauerschleifensender ProSieben genauso.)

Netflix braucht keine originär deutsche Inhalte, um zu funktionieren.

Vor allem aber beweist Netflix – ähnlich wie die amerikanischen Kabelsender – Mut zur Abseitigkeit und muss nicht zwangsläufig im Mainstream mitschwimmen. Nicht zuletzt deshalb schafft es Netflix mit seinen Produktionen regelmäßig in die deutschen Feuilletons, die Netflix-Produktionen längst ebenso selbstverständlich besprechen wie eine neue RTL-Serie. Zumal Netflix es Fernsehmachern erlaubt, Genres neu zu interpretieren – so wie in der Superhelden-Serie "Daredevil" in Kooperation mit Marvel, die nicht nur deutlich düsterer ist als alles, was man von den denm knallbunten Action-Stars aus dem Kino kennt. Sondern die sich auch Zeit für außergewöhnliche Kamera-Ideen nehmen kann, zum Beispiel eine minutenlange Action-Sequenz, in der es Daredevil in einem Kellerraum mit einer ganzen Reihe von Gegnern aufnehmen muss, während die Kamera während der ganzen Zeit nur über eingeschlagene Türen und erschöpft geprügelte Schurken vor- und zurückfährt und dabei das Randgeschehen bewusst ausblendet.

Nein, ein Auslaufmodell ist das klassische Fernsehen deswegen gewiss nicht. Aber die Definition des Mediums könnte sich in den kommenden Jahren noch einmal deutlich verschieben. Das wird nicht bloß an Netflix liegen, zumal es so schnell vermutlich keine deutschen Eigenproduktionen geben wird – anders als sich das viele deutsche Produzenten zum Marktstart bereits ausgemalt haben.

Realistischerweise braucht Netflix originär deutsche Inhalte gar nicht, um zu funktionieren. Der Dienst ist in der öffentlichen Wahrnehmung zum Synonym für Video-Streaming geworden, für Aufbruch in einer Branche, die kontinuierlich von neuen Impulsen leben sollte. Der Netflix-Effekt ist das Beste, was dem Fernsehen passieren konnte: Weil er wachgerüttelt hat. Die radikale Revolution allerdings, die ist vorerst abgesagt.