"Schaust du eigentlich noch lineares Fernsehen?" Wenn man sich bei Freunden als Medienjournalist mit dem Fokus auf TV- und Streaming-Berichterstattung zu erkennen gibt, ist das keine seltene Frage, die man beantworten muss. Meine Antwort lautet dann meistens: Natürlich, aber anders als früher. Dass das "Fernsehen" nicht tot sein kann, beweist alleine schon die Tatsache, dass nun schon seit etlichen Jahren immer wieder leidenschaftlich darüber diskutiert wird.

Die Nutzungsgewohnheiten der Menschen haben sich aber massiv verschoben. DWDL.de begleitet den Prozess seit vielen Jahren intensiv, unter anderem jeden morgen in der Berichterstattung über die Quoten des Vortags. Hier ist der Shift besonders offensichtlich: Vor allem beim jungen Publikum sind heute nur noch Bruchteile der Reichweiten drin, die für viele Sender früher mal selbstverständlich waren. 

Während große Sender wie RTL in der Vergangenheit immer wieder auf mehr als zwei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer im Alter zwischen 14 und 49 Jahren gekommen sind, müssen sie heute schon froh sein, wenn überhaupt insgesamt mehr als eine Million mit dabei sind. Und doch: Rechnet man die Zahlen zusammen, sitzen nach wie vor Abend für Abend Million Menschen vor den TV-Geräten und schauen sich das Programm eines oder mehrerer Sender an - und das vor allem insgesamt, aber auch beim jungen Publikum. 

RTL hat gerade erst bemerkenswerte Zahlen zum "Sommerhaus der Stars" veröffentlicht. Demnach entfällt mittlerweile mehr als die Hälfte der Nutzung auf RTL+. Das heißt im Umkehrschluss aber natürlich auch: Ein weiterhin sehr großer Teil schaut linear, auch wenn es immer weniger werden - bei Realityshows ist das ein weit verbreitetes Phänomen. Ohne die wöchentliche Ausstrahlung bei RTL im Linearen wäre das Format aber bei Weitem nicht so erfolgreich. 

Iris Plach © Sky Iris Plach
Dazu kommen Leuchttürme, die sich viele Menschen am liebsten linear anschauen, weil sie sonst möglicherweise etwas verpassen. Das trifft auf Live-Sport ebenso zu wie auf große Unterhaltungsshows, die live gezeigt werden. "Linear lebt – und das ziemlich gut! Der Mythos vom Aussterben des linearen Fernsehens ist längst widerlegt. Gerade beim Live-Sport zeigt sich: Lineare Nutzung dominiert weiterhin", sagt Iris Plach, Vice President Sales & Marketing bei Sky Media, gegenüber DWDL.de. "Echte Emotionen, Spannung und das Gefühl von Gemeinschaft erleben Menschen am liebsten live und auf dem Big Screen."

FAST und der neue Trend zum Linearen

Tatsächlich ist auffällig, wie besonders Sky seine Reichweiten in der aktuellen Bundesliga-Saison im Vergleich zum Vorjahr gesteigert hat. Der Sender kommt mittlerweile samstags in schöner Regelmäßigkeit mit vielen Übertragungen in die Top 25 der Sendungen, die am stärksten beim jungen Publikum performen. Das hat nicht nur mit der Schwäche der anderen Sender zu tun, sondern eben auch mit einem nachweisbar gestiegenen Interesse an den Übertragungen. Bei Sky spricht man von einem Nutzungsplus von 27 Prozent bei insgesamt durchschnittlich 3,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern - "und die Mehrheit fiebert bei linearen Live-Übertragungen mit".

Haruka Gruber © DAZN Haruka Gruber
Und auch Haruka Gruber, SVP Media Central EU bei DAZN, sagt gegenüber DWDL.de, dass große Sportevents "weiterhin die absoluten Lagerfeuermomente kreieren". Dass DAZN seit einiger Zeit auch selbst lineare Sender betreibt, spricht für sich. Der größte Anteil der Nutzung entfällt auf die App, wo viele Userinnen und User aber natürlich dann einschalten, wenn Bayern München oder andere Mannschaften in egal welcher Sportart spielen. 

DAZN steht aber auch noch für ein anderes, lineares Seherlebnis. "Das lineare Fernsehen ist keineswegs tot – es verändert sich nur. Mit unseren FAST-Channels bieten wir rund um die Uhr frei empfangbare lineare Sportinhalte vor der Paywall und für ein breites Publikum an", sagt Haruka Gruber. Mit diesen Kanälen erreiche man täglich "hunderttausende Zuschauerinnen und Zuschauer", so Gruber. Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren viele FAST-Channels von unterschiedlichen Anbietern gestartet und haben so dem linearen Seherlebnis einen zweiten Frühling beschert. 

Linear nicht nur bei großen Events beliebt

Der FAST-Trend bedeutet auch, dass Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur bei vermeintlich großen Lagerfeuermomenten ihr TV-Gerät einschalten, sondern auch Nischeninhalte gerne noch linear konsumieren, wenn sie wissen, was sie dort bekommen. "Für alle ist es ein zusätzliches Geschäft, das keine anderen Einnahmen kannibalisiert", sagte Benedikt Frey, Chef von Samsung TV Plus und damit von einem der großen FAST-Anbieter, Anfang des Jahres im DWDL.de-Interview. Die Wachstumsprognosen für FAST sind gigantisch und daher ist es auch kein Wunder, dass auch die großen Streamingdienste bereits damit experimentieren (DWDL.de berichtete). 

Kai Ladwig © Visoon Kai Ladwig
"Der Erfolg von Plattformen wie Pluto TV, Samsung, Joyn oder DAZN kommt nicht von ungefähr. Sie funktionieren nach den selben Mechanismen wie klassisches Fernsehen", sagt Kai Ladwig, CMO Visoon, also dem Vermarkter von unter anderem Pluto TV. Auch er hält die These, niemand würde mehr linear schauen, für einen längst widerlegten Mythos. "Die Reichweiten von Nachrichten, Sportereignissen, Events und Live-Shows sprechen da eine ganz andere Sprache." Zudem sei lineares Fernsehen oder lineares Streaming eine andere Nutzungssituation als On Demand Streaming. "Nicht besser oder schlechter, einfach anders."

188 Minuten täglich nur lineares TV

Lennart Harendza © ProSiebenSat.1/Dennis König Photographie Lennart Harendza
Bei ProSiebenSat.1 kennen sie alle Seiten - sowohl das sinkende Nutzungsvolumen bei den klassischen TV-Sendern, aber auch das steigende Interesse am Streamingbereich rund um Joyn - hier gibt’s übrigens auch viele FAST-Kanäle. "Selbstverständlich wandelt sich die Mediennutzung, insbesondere bei den jungen Zielgruppen. Wenn wir das Total Video-Universum in der AGF anschauen, findet aber bei den 14- bis 49-Jährigen noch 80 Prozent der Nutzung im linearen TV statt. Bei allen Zuschauern (Z3+) liegt die Nutzung sogar bei 90 Prozent", sagt Lennart Harendza, Chief Revenue Officer von Seven.One Media.

Was das AGF-Universum betrifft, stimmt das. Dort hat das klassische Fernsehen, also das Lineare, aber nach wie vor ein großes Übergewicht. Zieht man andere Zahlen heran, ergeben sich etwas andere Bilder. Laut der VAUNET-Mediennutzungsanalyse umfasste die Bewegtbildnutzung im vergangenen Jahr hochgerechnet 5 Stunden und 25 Minuten. Der Löwenanteil stammt auch dort nach wie vor von der Fernsehnutzung mit über 3 Stunden bzw. 188 Minuten täglich - das entspricht noch immer mehr als 50 Prozent der gesamten Bewegtbildnutzung. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die 14- bis 29-Jährigen schauen demnach nur noch 37 Minuten pro Tag Fernsehen. 

Und doch ist das Fernsehen für viele Menschen - auch für Jüngere - ein fester Anlaufpunkt. Aus der VAUNET-Analyse geht hervor, dass das lineare TV innerhalb von zwei Wochen 86,8 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung erreicht. Bei den Erwachsenen ab 14 Jahren liegt der weiteste Seherkreis sogar bei 88,0 Prozent. 

Linear-Anteil im AGF-Universum wird sinken

Die AGF-Zahlen werden mittelfristig wohl einen sinkenden Anteil der linearen Nutzung zeigen. Das hat schon alleine damit zu tun, dass sich die Organisation verstärkt um Partner bemüht, die eben keine klassischen TV-Sender sind. Erst in der vergangenen Woche erzielte man mit Prime Video einen Durchbruch: Der Streamingdienst lässt sich künftig von der AGF messen und Reichweiten ausweisen. Das wird für die Branche und speziell Werbekunden spannend - und ganz logischerweise wird das dafür sorgen, dass der Anteil des linearen Konsums sinkt. 

Das muss aber kein Beinbruch sein, die On-Demand-Nutzung ist ja schon heute da - sie wird dann nur auch im AGF-Universum sichtbarer. Und um das lineare Seherlebnis muss sich vorerst niemand sorgen. Auch in Zukunft werden Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt das gucken, was ihnen die Sender anbieten. Sei es wegen der besonderen Umstände, die Live-Übertragungen mit sich bringen, sonstigen TV-Lagerfeuern, zu denen man mittlerweile auch einige Krimis der Öffentlich-Rechtlichen zählen kann, oder auch, um auf speziellen FAST-Sendern die eigenen Lieblingsinhalte zu sehen.