Vorurteil der Woche: Unglaubwürdige Scripted-Reality-Sendungen am Nachmittag müssen noch deutlicher darauf hinweisen, dass sie unecht sind, um Jugendliche nicht zu "desorientieren".

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Als Roxy Schaller ihren Mann gerade zum Geständnis gedrängt hat, dass er fremdgegangen ist, steht auch schon die Polizei vor der Tür, weil die Angebetete seit dem heimlichen Liebesurlaub auf Mallorca spurlos verschwunden ist. In Brühl rettet Saskia Kellermann ihre alleinerziehende Nachbarin Denise Laufke vor dem gewalttätigen Ex-Mann, der sie bei ihrem Putzjob im Nachtclub bedrängt und dann die Kinder entführt. Währenddessen hat Versicherungskauffrau Birgit Münden in Köln nicht nur Stress mit dem Gatten, sondern sorgt sich auch um ihre 16-jährige Tochter, die sich zur Taschengeldaufbesserung mit 40-jährigen Männern aus dem Internet trifft.

Es war also eine ganz normale Woche im Nachmittagsprogramm von RTL. Wenn es nach den Landesmedienanstalten geht, soll das nicht mehr lange so bleiben.

(Wenn es nach den Zuschauern geht, aber auch nicht.)

Die in den geskripteten Schein-Dokus gezeigten Fällen vermischten "fiktive und reale Elemente", behandelten "oft einseitig und mit voyeuristischer Perspektive kinder- und jugendaffine Themen" und endeten mit "fragwürdigen Problemlösungen". So steht es in einem Papier, das die norddeutsche Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein (MA HSH) im zurückliegenden Herbst veröffentlicht hat. Und das den Nachmittagssendungen im Privatfernsehen nicht nur ein "erhebliches Potenzial zur Desorientierung von jungen Zuschauern" bescheinigt. Sondern deshalb auch für eine Art Warnhinweis plädiert, der noch schnell auf die Sendungen draufgepappt werden soll, bevor sie demnächst abgesetzt werden.

Immerhin haben sich die Marktanteile der Programme – wie berichtet – im Laufe weniger Jahre fast halbiert. Dennoch kämpfen die Medienwächter für eine angemessene Kennzeichnung. Sie wollen Kinder und Jugendliche "wachrütteln, um Missverständnisse zu vermeiden", heißt es im Papier, das auch gleich "diskussionswürdige Formulierungsalternativen" für eine Kennzeichnung liefert:

"Personen und Handlung dieser Sendung sind frei empfunden."
"Personen und Handlung dieser Sendung sind teilweise erfunden."
"Diese Sendung enthält eine Mischung aus erfundenen und realen Elementen."

Also ungefähr so?

Hinweis bei 'Verdachtsfälle'© RTL

Oder so?

Hinweis bei 'Familien im Brennpunkt'© RTL

Die Formulierung "Alle handelnden Personen sind frei erfunden" blendet RTL nämlich bereits seit längerem zu Beginn und am Ende seiner Scripted-Reality-Sendungen am Nachmittag ein. RTL-Sprecher Christian Körner erklärt: "Wir halten unsere Form der Kennzeichnung für völlig ausreichend, zumal mehrfache Marktforschungen ergeben haben, dass unsere Zuschauer den Charakter unserer Sendungen gut erkennen können." Die Medienanstalten halten mit Forschungsergebnissen dagegen, die zu anderen Schlüssen kommen. Und Thomas Fuchs, Leuter der MA HSH, sagt auf Anfrage, die Kennzeichnung durch RTL sei "noch recht flüchtig".

Offensichtlich wünscht man sich Hinweistafeln, auf denen der Hinweis zu Beginn und am Ende einer Sendung bildschirmfüllend eingeblendet wird. "Den Medienanstalten ist eine einheitliche Kennzeichnung des Formats wichtig", sagt Fuchs. Erst die führe dazu, dass Kennzeichnungen ihre Wirkung entfalteten. Sat.1 etwa kennzeichnet bisher nur im Abspann. Beim Sender heißt es, man sei "in konstruktiven Gesprächen" miteinander.

Eine Vereinheitlichung diene dazu, "einem Verwechslungsrisiko systematisch vorzubeugen", so Fuchs. "Es ist außerdem auch ein Gebot der verbraucherschutzbezogenen Transparenzpflicht, die Erkennbarkeit auf einen Blick zu ermöglichen." Das ließe sich eigentlich nur durch eine dauerhafte Einblendung ermöglichen, findet wiederum die schleswig-holsteinische Piratenpartei und plädiert dafür, Scripted Reality während der gesamten Dauer entsprechend zu kennzeichnen (Antrag als pdf). Bisher ohne Erfolg.

Im April soll es nun neue Gespräche zwischen den Landesmedienanstalten und den Sendern geben.

Denen ist die Initiative der Medienwächter womöglich gar nicht so unrecht, wie sie öffentlich behaupten. Sobald die Medienwächter erklären, neue Regelungen für ein Genre finden zu wollen, nähert sich dieses schließlich absehbar seinem Ende.

So erinnert die MA HSH in ihrem eigenen Papier daran, dass Maßnahmen gegen "bedenkliche Einzelsendungen" auch schon mal bei der "Auseinandersetzung um das Format Talkshow" diskutiert wurden. Das ist längst mausetot. Und als endlich ein halbwegs funktionierendes System in Kraft war, mit dem sich die Abzockexzesse bei Neun Live ahnden ließen, hatte das Geschäftsmodell sich längst überholt. Der Sender ist Geschichte. Und RTL testet ab Montag auf dem Sendeplatz der geskripteten "Trovatos" schon mal die neue Sendung "5 Zimmer, 1 Gewinner", die keine Scripted Reality ist.

Als funktionierendes Frühwarnsystem für austauschbedürftige Zukunftsflops hat sich der Regelungsbedarf der Medienanstalten in der Branche also fest etabliert.

Ach, und falls Sie's interessiert: Roxy Schaller ist mit ihrem Gatten wieder versöhnt, die verlassene Geliebte unversehrt wieder aufgetaucht. Der Ex von Saskia Kellermanns Nachbarin sitzt jetzt im Knast. Und die Familie von Birgit Münden aus Köln hat geschworen, sich "nie wieder zu belügen". Es wird also höchste Zeit, dass RTL sein Publikum am Nachmittag tatsächlich desorientiert. Am besten mit Fernsehen, das seine Glaubwürdigkeit vor der Ausstrahlung nicht komplett an der Garderobe abgegeben hat. Dann können wir uns nämlich auch die Warnhinweise sparen.

Das Vorurteil: stimmt nicht.