Vorurteil der Woche: Sat.1 sendet "Nachrichten".

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Da hat sich die internationale Nachrichtenlage wirklich einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um zu passieren. In der Ukraine schießen Separatisten ein Passagierflugzeug ab und im Nahen Osten ist Krieg, aber das ist für die "Sat.1 Nachrichten" noch lange kein Grund, nicht weiter ausführlich über eines der wichtigsten aktuellen Themen erschöpfend zu berichten:

Es ist Sommer!

Sat.1 Nachrichten© Sat.1

"Heiße Sache, dieses Wochenende!", fand die Redaktion am vorvergangenen Freitag, einen Tag nach dem Abschuss der Malaysian-Airline-Maschine, und berichtete vom DLRG-Cup aus Warnemünde. "Sommer, Sonne, Strand – aber neben der Vorfreude fliegt jetzt auch die Angst mit", kündigte Moderator Heiko Paluschka wenige Tage darauf einen Beitrag über deutsche Urlauber an, die wissen sollen wollten: Wie sicher ist meine Flugroute? "Bisschen mulmig" wär ihr schon, jetzt über Krisengebiete zu fliegen, berichtete eine Passantin. Doch auch am Boden warten "die Schattenseiten der Rekordtemperaturen": Auf der A2 platzte wegen der Hitze der Asphalt auf! Noch dazu wird auf der Autobahn in der Ferienzeit zu dicht aufgefahren, doch "Bayern reagiert mit einem Intensivkontrolltag!"

Wer derzeit Tag für Tag die Hauptnachrichtensendung von Deutschlands zweitgrößtem und letztwichtigstem Privatsender einschaltet, könnte glauben, dass dort selbst alle im Urlaub sind, so intensiv wie die lästige Sendezeit mit Lappalien überbrückt wird, während außenherum die Welt zerbröselt. Es ist nicht so, dass Sat.1 die Konflikte und Katastrophen ignorieren würde: Pflichtbewusst wird zu Beginn jeder Sendung runtergeleiert, was die Agenturen melden. Und wenn man sich mal richtig Mühe gibt, hängt der "Russland-Korrespondent" ausnahmsweise nicht bloß am Telefon, um zu berichten, dass er auch nichts weiß, sondern stellt sich vor eine schlechte Fototapete und macht vorher die Kamera an.

Den Krieg im Nahen Osten können Zuschauer der "Sat.1 Nachrichten" ausschließlich als lose Abfolge in die Luft gesprengter Privathäuser verstehen. "Das Wohnhaus dieser Familie liegt in Trümmern", beginnt ein Bericht. Ein anderer informiert, dass diesmal eine deutsch-palästinensische Familie gestorben sei, deren Vater schon mal in Hessen gelebt habe. Schicksal und Herkunft, das sind die Nachrichten. Den Zuschauern die Hintergründe dieser Eskalation zu erklären, hat der Zulieferer N24 offensichtlich komplett aufgegeben.

Als Konkurrent RTL am vergangenen Freitag ankündigte, seine eigenen Nachrichten auszuweiten, um den aktuellen Ereignissen gerecht zu werden, sah man sich wohl auch in Berlin und Unterföhring zum Handeln gezwungen. Also begrüßte "Nachrichten"-Moderator Paluschka sein Publikum am Abend mit den Worten: "Herzlich willkommen zu den Nachrichten, heute mit einer verlängerten Ausgabe aufgrund der Flugzeugkatastrophe in der Ukraine." Immerhin lässt sich deswegen nun mit Bestimmtheit sagen, dass eine "verlängerte Ausgabe" der "Sat.1 Nachrichten", die in der Programmzeitschrift mit täglich 20 Minuten Sendezeit angegeben sind, tatsächlich gut 18 Minuten dauert. (Und nicht, wie an normal fatalen Tagen ohne Flugzeugabsturz nur 13.)

Es ist der denkbar geringstmögliche Aufwand, den der Sender da betreibt, und das in einer Zeit, deren Ereignisse eigentlich nach ständiger Einordnung verlangen. Dass Sat.1 vor einem Jahr den "Tagesschau"-Sprecher Marc Bator verpflichtete, hätte als Absichtserklärung verstanden werden können, der Aktualität im Sender wieder mehr Gewicht zu geben und als relevante Stimme zwischen den öffentlich-rechtlichen Konkurrenten und RTL wahrgenommen zu werden – zumal "weitere Projekte in den Bereichen Information und journalistische Unterhaltung" mit Bator angekündigt wurden und dieser kein Interview ausließ, die Professionalität seines neuen Arbeitgebers und die vielen Möglichkeiten zu loben.

Das war offensichtlich Unfug. Auf Anfrage heißt es beim Sender, man arbeite immer noch "in engem Austausch mit Marc Bator gemeinsam intensiv an der Entwicklung künftiger Projekte". Derzeit ist der Chefsprecher offensichtlich in Urlaub, aber das macht gar nichts. Er müsste sonst ja bloß denselben Stuss vorlesen, den die Redaktion täglich zu einer Nachrichtenattrappe mit Servicemagazincharakter zusammenrührt.

Sat.1 Nachrichten© Sat.1

"'Got to Dance' geht heute in die zweite Runde! Hochtalentierte Tänzer wollen die Jury überzeugen. Bereits gestern haben JumpJump eine beeindruckende Performance hingelegt. Andere Acts stehen dem aber in nichts nach. Wie sie sich schlagen: jetzt gleich hier in Sat.1", berichteten die "Nachrichten" am Freitag vor einer Woche – und wussten damit die "verlängerte" Ausgabe auch für eigene Promotion-Zwecke sinnvoll zu nutzen.

Das Pferd der Queen ist positiv auf Doping getestet worden! Nur jedes fünfte Mineralwasser ist laut Stiftung Warentest empfehlenswert! Die Deutschen finden Steuerbetrug unmoralischer als vor sechs Jahren! (Da bastelt die Grafik was Witziges dazu.)

Sat.1 Nachrichten© Sat.1

Die Redensart von den "Hundstagen" hat gar nichts mit Hunden zu tun (kein Grund, diese Information nicht mit einem Hund zu bebildern)! Die Zahl der Scheidungen geht zurück! Auf Youtube schauen Leute gerne Unboxing-Videos an! Und der britische Prinz George ist "ein bisschen das Kind der ganzen Nation", findet die "Adels-Expertin" Leontine von Schmettow, die sich gerade aus den "Guldenburgs" rübergebeamt hat.

"Im Fall bedeutender Ereignisse informiert Sat.1 seine Zuschauer seit diesem Jahr verstärkt zeitnah mit kurzen Nachrichten-Sondersendungen über das aktuelle Geschehen", entgegnet man in Unterföhring. Unter anderem sei das geschehen "zum Flugzeugabschuss in der Ostukraine, zum WM-Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, zum Grubenunglück in der Türkei und zum Gerichtsprozess gegen Uli Hoeneß".

Dabei kann das Weltgeschehen eigentlich gar nicht kompliziert genug sein, um Sat.1 aus seiner News-Routine zu werfen. Weil es dem Sender und der Mutter ProSiebenSat.1 gar nicht darum geht, das Publikum zu informieren. Sondern bloß darum, eine Abbildung des Tagesgeschehens zu simulieren, um Medienwächter und Politik zufriedenzustellen. Dass die übrigen "Vollprogramme" ProSieben und kabel eins ihre aktuelle Berichterstattung längst in den Nachmittag verbannt haben, wo sie im Serien-Wiederholungsgewimmel nicht weiter stören, merkt von den Aufpassern schon keiner mehr.

Für Sat.1 lässt sich das seriöse Umfeld abends ja auch viel adäquater für die Werbekundschaft nutzen, die täglich direkt nach dem "Sat.1 Nachrichten"-Vorspann und den Themen des Tages einen 20-Sekunden-Spot im News-Rähmchen belegt. Ein Cremehersteller berichtete gerade: "Es gibt tolle Neuigkeiten! Olaz Complete Tagescreme ist Testsieger bei Stiftung Warentest für Feuchtigkeitspflege mit UV-Schutz! Aber wir glauben, unsere Anti-Aging-Pflege ist auch ein Grund zu feiern." Ja, das waren mal tolle Neuigkeiten. Da können die anderen nicht mithalten: Im Anschluss ging's nahtlos weiter mit dem neuesten Luftangriff in Gaza.

Das Vorurteil: stimmt nicht.