Vorurteil der Woche: Im deutschen Fernsehen gibt's keine freien Sendeplätze für Experimente.

* * *

"Die Leute wollen Originalität, aber auch Verlässlichkeit", hat RTL-Group-Chefin Anke Schäferkordt dem österreichischen "Kurier" mal gesagt und die widersprüchlichen Wünsche der Fernsehzuschauer gemeint. Mit der Originalität hapert's im Programm allerdings öfter, und das liegt vor allem an - der Verlässlichkeit. Immer wenn man ihnen mehr Experimente abzuringen versucht, beteuern Fernsehmacher in Anlehnung an Stefan Raab schließlich:

Wir haben doch keinen Platz!

Sechs Trilliarden Stunden Inhalte zeigen die unzähligen deutschen Sender jede Woche, 168 Stunden jeder einzelne von ihnen (außer kabel eins, das schafft knapp 200, weil jede durchgehaltene "Abenteuer Leben"-Folge doppelte Lebenszeit kostet). Und trotzdem sieht das Programm oft über Monate genauso aus. Weil das Publikum sich daran gewöhnt hat, dass im Ersten sonntags der neue "Tatort" läuft und bei RTL samstags was mit Dieter Bohlen. Außer jetzt.

Jetzt sind Ferien, und in den Ferien werden die Sender plötzlich mutig, weil all die Langweiler, die sonst Verlässlichkeit brauchen, offensichtlich am Strand liegen – wo sie sich hoffentlich nicht durch die nervenaufreibende Abwechslung von Ebbe und Flut irritieren lassen.

Real Humans© WDR/Johan Paulin

"Das ist eine ernstzunehmende Warnung", erklärt der WDR mit ernster Stimme in einem aktuellen Programmtrailer. "Nehmen Sie sich in Acht vor diesem Programm! Denn diese Serien machen süchtig." Im Juli hat der Sender mittwochabends um 22 Uhr damit begonnen, international renommierte Fiction im "Serienrausch" zu zeigen: Derzeit läuft "Borgen", Ende September folgt das in der Vorwoche bereits gerühmte französische Gruseldrama "The Returned", bis zum Ende des Jahres kommen noch "Real Humans" aus Schweden und "Top of the Lake" aus Neuseeland. Offensichtlich hat im WDR irgendwer einen Vernunftanfall bekommen und durchsetzen können, mittwochs einfach keine "Tatort"- und "Wallander"-Wiederholungen mehr zu bringen. (Nur "Der Fahnder" wird im Anschluss stur weitergezeigt.) Was für eine ganz hervorragende Idee!

Rising Star© RTL

In knapp vier Wochen probiert dann ausgerechnet Verlässlichkeits-Junkie RTL was Neues: Die Casting-Hoffnung "Rising Star" läuft weder mittwochs noch samstags, sondern grenzt sich schon durch die Ausstrahlung am Donnerstag vom Vorgänger "Deutschland sucht den Superstar" ab. Dass dort mal was anderes kommt als Serien, war für den Marktführer in den vergangenen Jahren undenkbar. Wenn nicht mehr genug neues Material vorrätig war, liefen halt stur Wiederholungen. Dabei ist der Entschluss von Geschäftsführer Frank Hoffmann, diese Regel (testweise) abzuschaffen, bloß konsequent: Für die meisten Zuschauer war der Donnerstagabend bei RTL sowieso nur noch der Tag, an dem sie verlässlich nicht einzuschalten brauchten, weil es kaum was zu verpassen gab. Mit "Adam sucht Eva" und der neuen Comedy "Was wäre wenn?" im Schlepptau soll "Rising Star" das ändern. Gut so!

(Und Glückwunsch an ProSieben, das den RTL-Schachzug mit "The Voice of Germany" auf dem Donnerstagsplatz vermutlich erst möglich gemacht hat.)

Beim ZDF tut man sich mit Experimenten zu Hauptsendezeiten naturgemäß schwerer. Der Vorabend ist wie ein Fels ins Programm gerammt, und zur Primetime haben die Mainzer ihr Programm so sauber durchdekliniert, dass Deklinierdirektor Norbert Himmler Änderungen immer bloß an den "Programmrändern" versucht, weil es dann quotentechnisch nicht so schlimm ist, wenn eine der Neuerungen von den Zuschauern mal über besagten Rand geschubst wird. Dabei tut's gar nicht weh, sich über die eigenen Zementprinzipien hinwegzusetzen: Der sonst nicht unbedingt für Wagemutigkeit bekannte Ableger ZDFneo zeigte neulich sein vielgelobtes Experiment "Der Rassist in uns" (hier in der Mediathek ansehen) in einer üblicherweise völlig Programmschema-untauglichen Länge von 75 Minuten. Einfach weil das genau die richtige Zeit dafür war. Toll!

Exclusiv im Ersten: Der große Deal© WDR

Und wenn Sie nun bitte noch mal einen Blick ins Erste werfen würden: Das veranstaltet montagabends während der Ferienwochen sein "Sommerkino". Und die in den kommenden beiden Wochen laufenden Filme sind so zeitig zu Ende, dass rund um die "Tagesthemen" noch drei unterschiedliche Reportagen vor Mitternacht laufen können. Drei! Vor Mitternacht! (Am kommenden Montag z.B. Dokus über das Freihandelsabkommen mit den USA unter dem Titel "Der große Deal", radikale Christen in Deutschland und Deutsche, die in Syrien zu "Gotteskriegern" werden; nächste Woche befasst sich das Erste zur besten Sendezeit mit dem "Kampf um die Pflegestufe".)

Oder, anders gesagt: Wenn es heiß ist in Deutschland und die meisten Leute Besseres zu tun haben als fernzusehen, zeigt das Fernsehen mal so richtig, was es kann. Kann sein, dass die Klimaerwärmung mittelfristig doch noch was Gutes hat.

Das Vorurteil: stimmt nicht.