Manchmal sind Geschichten nicht das, was sie zu sein scheinen. Ich bin seit gut zwei Wochen gefesselt von einer Spionage-Serie, die eigentlich etwas ganz anderes ist: "The Americans". Klar, es geht um die Geschichte von russischen Top-Spionen, die in Washington DC ihrem blutigen Handwerk nachgehen. Aber das ist nur der Deckmantel oder, um ein russisches Bild zu wählen, die äußerste Matroschka.

Darin versteckt: mehrere Matroschkas, die viel spannender sind. Es gibt die Matroschka, die für die Geschichte, die Verstrickungen des Kalten Krieges und den Blick hinter die Kulissen in den frühen 80er-Jahren steht: Wie war das damals? Wer hat mit welchen Mitteln versucht, was zu erreichen und eskaliert oder auch deeskaliert? Dann die Matroschka, die für das Leben und Fühlen eines Spions steht: Was macht das mit einem, wenn man immer wieder in neue Rollen schlüpfen und Menschen manipulieren, quälen, töten muss? Als nächstes die Matroschka, die für die eigene Identität steht: Die Protagonisten Elizabeth (Keri Russell) und Philipp (Matthew Rhys) sind stramme Kommunisten, denen nichts wichtiger ist als das Mutterland Russland. Doch können sie diese Einstellung - umgeben von ungekannten Annehmlichkeiten in ihrem Vorstadtleben in den kapitalistischen USA - überhaupt durchhalten? Wie sehr lassen sie sich dadurch beeinflussen, verändert das ihre Identität? Werden sie "weich"?

Dann die Matroschka, die ich persönlich am faszinierendsten finde in diesem Puppen-Ensemble: Die Beziehung der beiden Spione, die seit mehr als vierzehn Jahren eine Scheinehe führen und zwei Kinder haben, aber kein Liebespaar sind und es nie waren. Wir steigen in die Geschichte ein, als die Beziehung zueinander sich langsam zu verändern scheint. Was macht es mit Menschen, wenn sie so nah zusammenarbeiten und nur einem einzigen Menschen vertrauen können? Denn ihr komplettes Leben besteht darin, Rollen zu spielen: Vor ihren Kindern und Nachbarn die Rollen des amerikanischen Ehepaars und für ihre gemeinsamen Aufträge die jeweils nötigen Rollen, die sie manchmal wochen- und monatelang durchziehen müssen. Nur wenn sie zu zweit sind, ungestört, könnten sie sein, wer sie sind. Doch selbst das ist in den ersten Jahren nicht möglich: Denn sie halten sich an den Rat ihres Führungsoffiziers, sich besser nichts aus ihren Leben vor ihrer Zusammenführung zu erzählen. Sie dürfen kein Russisch miteinander reden, sprechen sich ausschließlich mit ihren amerikanischen Namen an. Und die beiden fangen tatsächlich erst, als sich nach mehr als vierzehn Jahren im Feindesland ihre Beziehung zueinander zu verändern scheint, damit an, sich nach und nach Bruchstücke aus ihren Leben in Russland zu erzählen.

In dieser Beziehungs-Matroschka verbergen sich noch weitere Puppen, die ich jetzt aus Spoiler-Gründen nicht ausführen werde, die aber das Beziehungsleben unter diesen sehr speziellen Bedingungen betreffen und spannende Fragen aufwerfen. Doch, eine möchte ich verraten, weil sie nicht zu viel vorwegnimmt: Welches Leben wollen die beiden Protagonisten für ihre Kinder? Die Kinder, die sie eigentlich nur zum Zweck der Tarnung bekommen haben - weil es sich für ein Ehepaar in der amerikanischen Vorstadt in den 80er-Jahren nun mal so gehört. Zu Beginn der Serie ist die Tochter 13 Jahre, der Sohn ein paar Jahre jünger. Sollen sie wirklich als "weiche", konsumgesteuerte Amerikaner aufwachsen, die denken, Russland sei der Feind? Oder sollen sie mehr über Russland, die eigentliche Heimat, erfahren? Und in welchem Ausmaß?

Mittlerweile gibt es vier Staffeln, zwei weitere sind in Arbeit, nach der sechsten soll Schluss sein. "The Americans" gehört zu den Serien, bei denen in den ersten Folgen die Begeisterungsstürme ausblieben, aber anerkennend genickt wurde. Zu den Serien, die sich ihr Publikum erst Folge für Folge erschließen mussten, bis am Ende von Staffel 3 und 4 begeistert applaudiert wurde. Entsprechend groß sind nun die Erwartungen an Staffel 5, die im Frühjahr 2017 auf dem US-Pay-Sender FX laufen soll.

Ich schreibe diesen Text an der Schwelle zu Staffel 3. Ich bin zwar eine Sehr-Spät-Einsteigerin, doch Anfang Oktober hat es mich gepackt, die ersten beiden Staffeln habe ich in nur zwei Wochen gesehen, weil mich "The Americans" von der ersten Folge an gebannt hat. Die ersten zwei Staffeln sind sehr gut - es dauert natürlich eine Weile, bis alle Matroschkas im Spiel sind. Doch je weiter man vordringt, desto besser und faszinierender wird die Serie, denn die Puppen werden virtuos eingesetzt. Die unterschiedlichen Aspekte dieser komplexen Erzählung werden sehr geschickt miteinander verwoben, so dass nicht immer alle sofort sichtbar werden. 

Und, jetzt? Jetzt muss ich die Matroschkas, die ich gedanklich auf meinen Schreibtisch nebeneinander gestellt habe, schnell wieder ineinandersetzen, den Rechner zuklappen und endlich mit Staffel 3 loslegen.

Vorher aber noch schnell: ein Hörtipp

Im Podcast "Seriendialoge" dreht es sich diese Woche um "Happy Valley", eine düstere britische Polizeiserie, die Sat.1-Chef Kaspar Pflüger nachhaltig fasziniert hat. Ein Gespräch über Trostlosigkeit, die reinzieht, die Bedeutung von Happy Ends und darüber, was "Happy Valley" mit "Fargo" zu tun hat und warum "Happy Valley" nicht für Sat.1 geeignet wäre.

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Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das gucken, über das ich schreibe?

"The Americans": Ist derzeit auf keinem deutschen Sender zu sehen, lief bei ProSieben Maxx und Sat.1 Emotions. Die bisherigen vier Staffeln sind bei folgenden Streaminganbietern verfügbar: Amazon Video, iTunes, Maxdome, Videoload. Auf Netflix gibt's bisher nur die ersten beiden Staffeln. Auf DVD gibt's die Staffeln 1 bis 3 (UK- oder US-Import).

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