Es wird ja viel geschimpft übers Radio. Die Unerträglichkeit von penetrant gutgelaunten Moderatoren am Morgen ist dabei ebenso Thema wie die ständige Rankumpelei an den Hörer und die ewige Behauptung, man selbst habe die beste Zusammenstellung von Hits. Das Schlimmste aber ist die Musik. Ein Brei aus Charttiteln oder sonstigem Zielgruppeneinerlei ergießt sich aus den Lautsprechern, seelenlos zusammengestellt von Kollege Computer, weil der angeblich genau weiß, was die Deppen da draußen wollen. So etwas ist derart nervig, dass dagegen jede Wurzelbehandlung beim Zahnarzt wie ein Südsee-Urlaub anmutet.

Lange war Radio deshalb zu Recht abgemeldet, und jeder Mensch mit einem IQ über Zahnpasta hat sich abgemeldet oder sich den wenigen Wortradios zugewandt, selbst wenn die in durchaus unterschiedlicher Qualität senden. Alles aber schien besser als dieser künstlich gepampte Musikquark aus der Radioberaterdose.

Nun gibt es aber Ausnahmen. Hier und da finden sich bei diversen Anstalten noch Sendungen, die wirklich mit Liebe zusammengestellt werden, in denen Musik mehr sein soll als nur ein Nichtstörungselement. Dort machen sich Menschen tatsächlich Gedanken, überlegen, wie Dinge zusammenpassen könnten, was verschiedene Songs einander zu sagen haben, wie man Unzusammenhängendes verknüpft.

Der WDR hat solch eine Sendung, die hier mal als lobendes Beispiel und Ermutigung für alle anderen Einzelkämpfer erwähnt werden soll. Diese Sendung läuft von sonntags bis freitags auf dem eigentlich für musikalische Senioren reservierten Kanal WDR 4, und sie kommt daher mit der Attitüde eines niedrig dosierten Beruhigungsmittels. Hier wird auf den ersten Blick noch echte Betulichkeit gepflegt, worauf auch der Beipackzettel hinweist, den der WDR diesem Sedierungspräparat beilegt. „Sie wollen den Tag sanft ausklingen lassen? Sie haben genug von hektischer Betriebsamkeit und Wortgeklingel? Sie brauchen Entspannung? Sie finden sie jeden Abend bei WDR 4!“ Das steht da allen Ernstes, und normalerweise würde es jeden Menschen abschrecken, vor allem solche, die noch kein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben.

„Musik zum Träumen“ heißt die Sendung deshalb auch sehr konsequent, was ein bisschen klingt wie direkt aus dem Lebenshilfe-Ressort der Apotheken-Rundschau entnommen. Und meistens tönt es dann beim ersten Reinhören auch so. Man schaltet ein und wähnt sich sofort in einem riesigen Aufzug. Riesig deshalb, weil in der Mehrzahl der Songs immer auch noch ein Orchester Platz finden muss, um den Fahrgast mit süßlicher Streichsoße einzupinseln. Steigt man derart genässt aus dem Aufzug wieder aus, ist man verwundert über die Erkenntnis, wie viele Orchester im Archiv des WDR lagern, wie gut sie die Jahrzehnte überdauert haben mit einer Musik, die schon zum Zeitpunkt der Herstellung völlig aus der Zeit gefallen war.

Große Geigenflächen sind der Standard bei „Musik zum Träumen“, und wenn keine Geige erklingt, dann ist da bestimmt noch Platz für ein verkitschtes Saxophon oder eine hauchzart gezupfte Gitarre, die mit dünnem Ton die Melodie irgendeines bekannten Hits nachdudelt. Um es kurz zu sagen: Willkommen in der Easy-Listening-Hölle.

Könnte man denken. Beim ersten Hören. Aber wenn man häufiger mal in der Zeit zwischen 22 und 24 Uhr auf den Straßen des Sendegebietes unterwegs ist, dann lernt man diese besondere Musikmischung sehr zu schätzen. Nicht weil man plötzlich zum Easy-Listening-Fan wird, sondern weil man spürt, dass sich da jemand sehr viele Gedanken macht über die Musikzusammenstellung. Da wird noch mit Liebe kuratiert, denn zwischen das seichte Orchester-Gedudele packt der zuständige Redakteur immer wieder mal Songs, die man sonst nirgendwo hört, die man vor allem nie erwartet hätte.

Ein Beispiel vom vergangenen Donnerstag: Hat es eben noch eine vom Orchester komplett zerbügelte Kitschversion des Take-That-Knallers „Back For Good“ gegeben, so hört man plötzlich Michelle Pfeiffer zart singen, einen Titel aus „Mord im Orientexpress“. Und dann folgt wenig später Willy Nelson, dann ein genial gewagter Instrumentalswing vom Comedian Willy Astor, der eine ganz und gar bezaubernde Gitarre spielt. Abgerundet wird das Ganze dann mit einem Song des genialen Liedermachers Gisbert zu Knyphausen, bevor eine herrlich verkitschte Vibraphonausgabe von „The Windmills Of Your Mind“ den Hörer in die Nacht entlässt.

Wenn man viel Glück hat, kann man in dieser Abteilung des Seniorensenders WDR 4 auch ganz wunderbare Formationen fürs Restleben entdecken. Ich persönlich habe vor zwei Jahren in der „Musik zum Träumen“ die fabelhaften Milk Carton Kids entdeckt, die damals zu meiner absoluten Lieblingscombo avancierten und es seitdem geblieben sind.

Das Schöne an dieser nächtlichen Zusammenstellung ist meistens, dass man die wenigsten Titel kennt, dass man im normalen Leben, im Alltag, bei Tageslicht sehr viele der Songs äußerst furchtbar fände, dass aber die Gnade der Nacht die Aufmerksamkeit schärft für Abseitiges im allzu Offensichtlichen. Wäre man böse, würde man „Musik zum Träumen“ ein orchestrales Skurrilitäten-Kabinett nennen. Ist man hingegen offen, kann man sich einlassen auf dieses abenteuerliche Panoptikum, das zum Wegdämmern gedacht ist, das aber beim aufmerksamen Lauschen hellwach hält, weil man sich ständig fragt, was sie im Sender da wohl als nächstes wagen.

Um es nochmal kurz zu sagen: „Musik zum Träumen“ ist sehr liebevoll gemachtes Radio. Es ist ein Angebot, das den Hörer gleichermaßen verstört und fordert, das niemals vorhersehbar ist. Es ist, auch wenn es in der Konzeption erst einmal weichgespült klingt, der komplette Gegenentwurf zum Einheitsradio der Durchschnittsklasse. Es wagt etwas. Alles Lob dafür.