Herr Schradin, vor einem dreiviertel Jahr kam die Nachricht, dass 9Live eingestellt wird. Was haben Sie nach dem Ende des Senders gemacht?

Ich habe wenig bis gar nichts gemacht, mich zurückgezogen und mich um Familie und Freunde gekümmert, die in den letzten Jahren leider viel zu kurz kamen. Es ging mir darum, Ruhe zu finden und über die vergangenen zehn Jahre nachzudenken, in denen ich immer 110 Prozent gegeben habe, manchmal auch auf 180 war und verbal Leute beschimpft habe. Aber man wird älter und weiser und lässt all das Revue passieren.

Konnten Sie von heute auf morgen auf diese Fernsehpräsenz verzichten?

Es war für mich überhaupt kein Problem, weil ich mich nie als Rampensau gesehen habe. Ich musste nicht zwingend Fernsehen machen. Ich habe sehr viel Glück gehabt, dass ich die Chance bekommen habe, zu 9Live zu kommen. Das war relativ wenig Aufwand und wurde ganz gut bezahlt. So gesehen war das für mich ein ganz normaler Job, der mir Spaß gemacht hat und bei dem ich auch komplett durchdrehen konnte. Ich hoffe, man hat mir manchmal in der Sendung angesehen, dass ich das mit Freude mache. Aber ich muss nicht unbedingt Fernsehen machen. So ganz von heute auf morgen kam es ja auch nicht. Es war ein schleichender Prozess, die Zahlen sind langsam schlechter geworden. Und wenn man 9Live als normales Wirtschaftsunternehmen sieht - und so hab ich es immer gesehen, denn es ging nach Zahlen und Umsatz, nicht nach Zuschauerquote sondern rein nach Kohle - dann hat man ja gemerkt, wie das langsam den Bach runter ging. Die Reichweite wurde reduziert, somit wurden auch die Anrufe weniger. Der Stress wurde höher, die Leute haben immer mehr Druck bekommen – von den Chefs über die Moderatoren bis hin zu den kleinen Praktikanten. Und dann hörst du den Ebeling, der sagt: „Naja, es muss nicht unbedingt 9Live sein. Wenn ich was besseres finde, wäre ich auch nicht abgeneigt, 'hier' zu schreien.“  Da wusste man, wenn man nicht ganz dumm in der Birne war, dass 9Live irgendwann eingestellt wird, sofern nicht noch ein Wunder geschehen sollte.

Es gab ja nicht nur Herrn Ebeling: Die Kritik war im Grunde allgegenwärtig. Bevor wir dazu nochmal genauer kommen: Wie reagierten eigentlich ihre Freunde und Familie auf den Job bei 9Live?

Also als ich noch auf Sendung war, hab ich ja fast jeden Tag moderiert, aber ein paar Leuten bin ich trotzdem noch außerhalb des Studios begegnet. Wenn mich fremde Menschen angesprochen haben, dann oft so „Ey, Hot Button, 9Live“ oder dergleichen. Hin und wieder wurde auch nach Fotos gefragt, auch wenn ich das nie verstanden habe. Mir war der Rummel um mich selbst eigentlich egal. Ich persönlich hätte auch keine Autogrammkarten gebraucht – aber klar ist es schön, wenn jemand sagt „Geile Sau, dich find ich cool“. Das schmeichelt dir schon und wenn du Fanpost kriegst auch. Meine Freunde wussten natürlich, was ich mache. Die einen haben es belächelt. Ich wusste aber immer, was ich tue. Dass ich bei 9Live arbeite und dass man bei 9Live nicht zwingend als „Tagesschau“-Moderator moderieren soll. Niveau ist das falsche Wort, aber 9Live ist vom Anspruch her nie in der Spitze des deutschen Fernsehens angesiedelt gewesen. Das wusste ich. Das war schon ganz unten angesiedelt. Aber da konnte man dann seine Späße machen. Das wussten auch meine Freunde, denen klar war, dass ich da eine Show abziehe und dass ich so, wie ich im Fernsehen war, übertrieben war. Mit Augenzwinkern, mit ein bisschen Satire und nicht ganz so ernst. Und die, die man dann mal so über Freunde kennengelernt hat, weil man auf einer Party eingeladen war, die haben mich  immer zur Seite gezogen und gesagt „Komm, sag mal...“ Was ja ganz Deutschland auf der Seele brannte, war die Frage: „Sag mal, das ist doch Betrug?! Ihr stellt doch nicht wirklich Anrufer durch. Man kann ja bei 9Live nicht wirklich gewinnen.“ Da hab ich mir immer gedacht: Leute, überlegt doch mal. Das Ding läuft in Deutschland nicht fast zehn Jahre, wenn es Betrugsfernsehen wäre und die Leute kein Geld bekommen würden. Der erste Anrufer, der keine Kohle bekommt, hätte vielleicht noch den Mund gehalten. Der zehnte vielleicht auch. Aber beim hundertsten doch nicht mehr. Das wäre doch rausgekommen.

Moment, es wurde 9Live nie vorgeworfen, es würde niemand gewinnen. Es ging darum, welche Chancen man darauf hat...

Ich habe auch gehört, dass viele meinten, die Anrufer kämen aus unserer Redaktion. Dazu muss ich klar sagen: Das ist Scheiße! Das muss ich ganz klar sagen: Das war niemals so. Es gab mal Situationen, da gab es einen Aufleger, weil es technisch nicht möglich war, in dem Moment einen Anrufer reinzustellen. Dann sagt man „Scheiße, das war ein Aufleger“, aber dann gibt es ja die besondere Regel, wonach 30 Sekunden bzw. maximal eine Minute nach einem Aufleger jemand reingestellt werden muss. Also es gab nie fingierte Anrufe, die was gewonnen haben. Es hat keiner etwas geduldet, was nicht richtig war.

Naja. Auch darauf kommen wir auch nochmal zurück. Das kann man auch anders sehen. Sie sagen über sich selbst auf Ihrer Website: „Ich bin ein Typ, der sich schwer abstempeln lässt.“ Aber 9Live ist ein starker Stempel gewesen. Ein guter oder ein schlechter?

Ganz viele ehemalige Moderatoren und Redakteure, mit denen ich spreche, sagen, dass es eine schöne Zeit war und wir viel Spaß hatten. Und das unterstreiche ich auch. Als Moderator bekamst Du natürlich das Meiste auf die Fresse. Du bekommst einen Stempel und bist das 9Live-Gesicht. Es mag sein, dass es schwierig ist, davon wieder los zu kommen. Ich glaube aber, wenn du Talent hast und mehr kannst als nur den Hot Button und so dusselige Spiele über Stunden anzumoderieren, kann man nach einer gewissen Zeit den Stempel loswerden und beweisen, dass man mehr kann als Tiere mit A, E, I oder U zu suchen. Aber klar, das wird schwer. Weil 9Live einfach generell einen schlechten Ruf hatte.