Als Netflix-Boss Reed Hastings am späten Donnerstagnachmittag die Bühne von Europas größtem Serienfestival betrat, war ein siebenstündiger Konferenztag vorangegangen, an dem kaum ein Speaker die Streaming-Plattform unerwähnt gelassen hatte. Der erstmals im Rahmen der Séries Mania ausgerichtete "Lille Transatlantic Dialogue" bündelte die politische, wirtschaftliche und kulturelle Diskussion zwischen Europa und den USA rund um die Zukunft der TV-Industrie.

Mit dem dänischen Netflix-Original "The Rain", das am Freitag online geht, im offiziellen Wettbewerb des Festivals präsentierte Hastings sich in seiner Rolle als Ermöglicher einer europäischen Vision. Lokale Serien in anderen Ländern populär zu machen, sei die positive Kraft von Netflix, die zur kulturellen Verständigung beitrage. Von France-24-Moderatorin Marjorie Paillon auf die wachsende Konkurrenz um Talent und Stoffe angesprochen, wurde Hastings indes umgehend sachlicher: "Geld hilft", lautete seine knappe Antwort. 2018 investiert Netflix in Europa nach eigenen Angaben eine Milliarde Euro in Eigenproduktionen.

Nicht zuletzt als starke europäische Antwort darauf wollen drei der größten öffentlich-rechtlichen Anstalten des Kontinents ihre neue Serienallianz verstanden wissen. Delphine Ernotte, Präsidentin von France Télévisions, stellte auf dem Festival in Lille die Details ihrer Vereinbarung mit ZDF-Intendant Thomas Bellut und Rai-Generaldirektor Mario Orfeo vor: Franzosen, Deutsche und Italiener werden in den nächsten Jahren gemeinsam eine Reihe von High-End-Serien entwickeln und koproduzieren. Die ersten drei Projekte der Allianz sind die Biopic-Serie "Leonardo" zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci im Jahr 2019, die in Dubai angesiedelte Spionageserie "Mirage" sowie die historische Krimiserie "Eternal City", die in Roms Filmszene der 60er Jahre spielt.

"Wir brauchen in Europa besser finanzierte und besser produzierte Fiction", so Ernotte. "Keiner von uns kann allein ein 'The Crown' stemmen. Zusammen jedoch könnten wir morgen loslegen. Wenn wir, die europäischen Öffentlich-Rechtlichen, nicht auf die Erwartungshaltung des Publikums in Sachen ambitionierter Serien antworten, dann sind wir selbst schuld, wenn wir den Anschluss verlieren." Neben den drei Großen seien RTVE aus Spanien, RTBF und VRT aus Belgien sowie RTS aus der Schweiz als "privilegierte Partner" mit an Bord. Darüber hinaus sei die Allianz auch für weitere Interessenten offen.

Dass Europa in puncto Koproduktionen tatsächlich noch Nachholbedarf hat, zeigten Zahlen der European Audiovisual Observatory (EAO), einer Behörde des Europarats in Straßburg. Im Erhebungszeitraum 2015/16 seien durchschnittlich 380 europäische Serien pro Jahr produziert worden, so Gilles Fontaine, Leiter der EAO-Marktinformation. Nur 30 davon, also 8 Prozent, seien zwischen mindestens zwei Ländern koproduziert worden. Stärkstes Herkunftsland war demnach Großbritannien mit 83 Serien pro Jahr, gefolgt von 69 aus Frankreich, 58 aus Deutschland und 32 aus den Niederlanden. Knapp zwei Drittel aller Serien, nämlich 241, entstanden für öffentlich-rechtliche Sender, 104 fürs private Free-TV, 23 fürs Pay-TV und lediglich 11 für SVoD-Plattformen – eine Zahl, die seit 2016 freilich spürbar gestiegen sein dürfte.

Auf die bislang teuerste europäische Netflix-Serie kam in Lille auch Claire Sumner, Director of Policy der BBC, zu sprechen: High-Quality-Fiction dürfe nicht nur unter Budgetgesichtspunkten betrachtet werden, sondern müsse gerade im öffentlich-rechtlichen TV auch der kulturellen und erzählerischen Vielfalt verpflichtet sein. "Natürlich ist 'The Crown' wundervoll, aber für das Budget der ersten zwei Staffeln produzieren wir 18 Staffeln von ganz verschiedenen BBC-Serien", so Sumner. Ihren Punkt unterstrich HBO-Europe-Programmchef Antony Root, der im High-End-Segment eine gewisse Gefahr der globalen Anpassung konstatierte und für mehr Mut zur Individualität plädierte. "Es sollte nicht alles ähnlich aussehen, und mit stromlinienförmigem Storytelling tun wir uns keinen Gefallen", so Root. Dass in der EU mehr politischer Druck auf Netflix & Co. zukommen könnte, machten Frankreichs Kulturministerin Françoise Nyssen und Doreen Boonekamp, Direktorin des Niederländischen Filmfonds, deutlich: Beide sprachen sich dafür aus, in Europa aktive SVoD-Dienste künftig zu einer verpflichtenden Filmförderabgabe heranzuziehen.

Séries Mania 2018 – Reed Hastings, Marjorie Paillon© Séries Mania
Reed Hastings selbst bemühte sich um maximale Abgrenzung von kostenlosen Digitaldiensten wie Google und Facebook, bei denen die Nutzer mit ihren Daten bezahlen. Auf die kritische Frage der Moderatorin, ob Netflix denn genug Steuern in Europa zahle, verwies der CEO auf die Umsatzsteuer, die im Land des Abonnenten abgeführt werde, und auf die Euro-Milliarde, die man dieses Jahr in die hiesige Produktionswirtschaft stecke. Tendenz für 2019: steigend. Selbst einer möglichen EU-Förderabgabe erteilte er keine generelle Absage. "Wir müssen sicher Wege finden, unsere Verantwortung innerhalb der lokal etablierten Systeme stärker wahrzunehmen", so Hastings. "Wir wollen nicht mehr als Außenseiter wahrgenommen werden."

Und dann gab der Netflix-Chef auch noch einem Gerücht Nahrung, das seit Wochen im französischen Markt schwelt: Angeblich steht das US-Unternehmen kurz vor der Übernahme von Luc Bessons Filmstudio EuropaCorps ("Transporter", "Taken"). Während er Fragen nach dem Kauf einer Kinokette oder einer Außenwerbefirma klar dementierte, lächelte Hastings in diesem Fall nur verschmitzt: "Wir lieben Luc Besson – aber mehr kann ich nicht sagen."