In den seltensten Fällen lässt sich bei Fernsehformaten der genaue Moment bestimmen, an dem ein Hype platzt. Vielleicht ist "Newtopia" einer dieser ganz seltenen Fälle. Vielleicht war damals die Nacht vom 12. auf den 13. April des Jahres 2015 jener Moment, an dem die TV-Idee, die an sich selbst an Anspruch hatte, einen ähnlichen oder gar größeren Siegeszug als "Big Brother" anzutreten, scheiterte. Der Moment, an dem sich die Vision eines letztlich kaum visionären Formats nicht bewahrheitete. Dabei lief doch im Jahr 2014 alles noch so vielversprechend.



Rund zehn Jahre ist es mittlerweile bereits her, dass "Utopia", wie die Formatidee im Original hieß, auf Fernsehmessen wie in Cannes als nichts weniger als die revolutionäre TV-Idee angepriesen wurde. Dabei lebte "Utopia" sicherlich auch vom Namen seines Erfinders: John de Mol. Der hatte es 15 Jahre zuvor bekanntlich geschafft, mit dem Start von "Big Brother" etwas wirklich Revolutionäres an den Start zu bringen – und mit "Utopia" die Idee mit dem theoretisch unendlich angelegten neuen Reality-Format noch weiter entwickelt.

Nach erfolgreichem Start beim niederländischen SBS 6, der im Dezember 2013 über die Bühne ging, schlugen andere Länder rasch zu. Unter anderem hatte sich ProSiebenSat.1 die Rechte für Deutschland gesichert, Fox stellte in Amerika eine mehrmals wöchentlich zur Primetime ausgestrahlte Version her, auch in der Türkei entstand fürs Fernsehen eine solche neue Gesellschaft. Und genau mit diesen Verkäufen warb man auch auf Fernsehmessen, versprach das Konzept doch inhaltlich schier grenzenlose Möglichkeiten.

Newtopia © Sat.1/Talpa/BB-unzensiert.de Nur karg ausgestattet war die Scheune von "Newtopia" zu Beginn. Weil der deutsche Cast recht träge war, blieb sie es auch.


15 Teilnehmer, beim Format "Utopia" Pioniere genannt, beziehen ein Stück Land. In Deutschland spielte sich das Geschehen in Brandenburg ab. Dort gründen sie eine ganz eigene Gesellschaft, schaffen eigene Gesetze und Abläufe. Sie bestimmen das Miteinander, legen fest ob es einen König, einen Bürgermeister oder andere Hierachien gibt. Sie müssen sich selbst versorgen und dürfen dafür Handel mit der Außenwelt betreiben. Anders als bei "Big Brother" konnte die Außenwelt also aktiv Part des TV-Projekts werden. Monatlich muss ein Pionier gehen, andere kommen hinzu. Dass die Probleme beim deutschen "Utopia" schon weit vor der Ausstrahlung begannen, war dann ein wirklich schlechtes Omen. Die Nutzung des Originalnamens wurde vor dem Start noch untersagt und in Deutschland wurde aus "Utopia" "Newtopia".

Zwar glückte der Start in Sat.1 Ende Februar 2015 mit rund 17 Prozent Marktanteil. Doch schon am Ende der ersten Woche blieben gerade einmal noch zwölf Prozent in der klassischen Zielgruppe übrig. Die geglückte Premiere in Deutschland brachte de Mols Firma Talpa aber so viel Rückenwind, dass ITV einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag für die Übernahme von Talpa bezahlte. Es hieß, erfolgsabhängig könne der Deal in den Folgejahren sogar milliardenschwer werden.

Dass das wohl nicht der Fall war, dazu trug eben auch jene schicksalshafte Nacht in der "Newtopia"-Scheune bei. Die "neue deutsche Gesellschaft" war in den Wochen zuvor schon eher durch Trägheit und Ideenlosigkeit aufgefallen. So tauchte also in der Dunkelheit plötzlich eine Produzentin des Formats auf, die – wohlwollend bezeichnet – "inhaltliche Denkanstöße" anbrachte. Etwa das Verkaufen der Kühe zugunsten der Eröffnung eines von den Pionieren betriebenen Restaurants. Sie beklagte zudem den Druck vom Sender und offenbarte den Teilnehmenden, dass das Format nicht so liefe wie erhofft.

Von einer Minute auf die nächste stellte sich das auf allen Messen so begehrte neue Reality-Projekt also als heimliche Scripted Reality dar, zumal jene Mitarbeiterin keinen Hehl daraus machte, dass es ihren damaligen Aussagen nach einen solchen nächtlichen Austausch auch in den Niederlanden immer wieder gegeben haben soll – nur ohne Liveübertragung. Wie wahr das alles war, war dann letztlich zweitrangig. Unübersehbar waren fortan die Zweifel, "Newtopia" hatte den Ruf als Schummelshow.

Newtopia © SAT.1 Längst wieder geschlossen: In Sat.1 schlossen sich die Tore von "Newtopia" nach etwa fünf Monaten.
 

"Wir sind genauso enttäuscht wie ihr von den Dingen, die in der Nacht auf Montag passiert sind", bemühten sich Sender und Produktionsfirma im April 2015 zwar rasch um Schadensbegrenzung. Es gebe kein Drehbuch, hieß es in einem Statement, die Rede war von einem menschlichen Fehler. Und während die Produzentin beurlaubt wurde, spielten einige Pioniere dann in der Tat ganz brav mit dem Gedanken, die Kühe zu verkaufen. Vielleicht hätten sie das auch besser machen sollen, denn die Tiere sorgten für einen weiteren Skandal. Nach einem Massenauszug von Pionieren und arg stockendem Nachzug von Teilnehmern fehlte es in "Newtopia" an einem gelernten Landwirt. Wenige Wochen nach dem Scheunen-Gate hatte sich eine Kuh überfressen, weil Bewohner eine Tonne nicht geschlossen hatten. Der Pansen des Tieres war durch das viele Kraftfutter übersäuert. Das Tier überlebte, die Sendung vegetierte noch einige Wochen im Sat.1-Programm vor sich hin, länger aber nicht.



Weltweit hat das heiße Eisen von damals nicht überlebt. Sat.1 beendete die so hoffnungsvoll gestartete Sendung im Juli 2015 nach etwas mehr als 20 Wochen. Im September 2015 ging die bis heute einzige türkische Staffel nach etwas mehr als 200 Folgen zu Ende, in den USA entschied sich Fox gegen die Bestellung einer zweiten Staffel. In China war die TV-Idee im Sommer 2015 frisch an den Start gegangen und hielt sich von allen Versionen abseits des Mutterlandes am längsten – nämlich ziemlich genau ein Jahr. Inzwischen ist "Utopia" in keinem einzigen Land der Welt mehr on air. Auch in den Niederlanden ist das Projekt schon Geschichte. 2018 lief dort die letzte Folge. So bleibt "Utopia" auch zehn Jahre nach der weltweiten Premiere ein spannendes Beispiel für eine beispiellose Illusion. In gleich mehrfacher Hinsicht.