Ein Drogentrip, das lehrt uns die Filmgeschichte seit schwarzweißer Zeit, ist weder auf Leinwand noch Bildschirm einfach ein Drogentrip. Wer ihn inszeniert, will uns stets was Bedeutsames sagen, meist im Dienste herkömmlicher Moralvorstellungen. Nur selten gewinnt eine Fiktion dem Drogentrip daher so unterhaltsame Seiten ab wie die Heroin-Eloge "Trainspotting" oder das Haschdealer-Porträt "High Maintenance". Darüber hinaus dient (mal abgesehen vom konservativ beweihräucherten Massenvernichtungsmittel Alkohol) ja praktisch jeder Rauschzustand zur Abschreckung. Seht her, so lautet die Botschaft von "Breaking Bad" bis "Dr. Kleist", was Drogen Furchtbares anrichten! Die Fronten sind demnach klar.

Außer für Patrick Melrose.

Die Romanfigur des englischen Autors Edward St Aubyn ist das, was man polymorph süchtig nennt. Ein exzentrischer Snob von gleichem Blaublut wie sein ebenso aristokratischer Erfinder, der bedingungslos spritzt, schluckt, raucht und schnupft, was – ob nun offiziell oder illegal erhältlich – auch nur nebenwirksam die Sinne vernebelt. Vom ersten Augenblick der gleichnamigen Koproduktion von Showtime und Sky, ist Patrick Melrose also dicht bis unter die Hutschnur. Im wilden Wechsel zwischen völliger Euphorie und totalem Absturz gebärdet er sich dabei stets am äußersten Rand seiner biopolaren Gefühlsskala. Und dass es so anziehend wie abstoßend ist, dem autoaggressiven Parforceritt durch die Betten, Rinnsteine, Salons zuzusehen, macht dabei der Hauptdarsteller plausibel. Wenngleich nicht nur er.

Wie Benedict Cumberbatch nervös schwitzend, meist zitternd, oft kopfüber, aber verbissen standesbewusst den narzisstischen Adelsspross mimt, das grenzt ohne Übertreibung an die besten Schauspiel-Leistungen der Fernsehhistorie. Und es lässt zudem die Frage aufkommen, ob der Cousin 16. Grades vom Sherlock-Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle nicht einige der Substanzen ausgiebig probiert hat, deren Wirkung er nun so furios nachstellt. Zugleich aber liegt der permanenten Ausschweifung ein literarisches Ursprungsdrama zugrunde, das zugleich demütig, ergriffen und stumm macht.

Dabei beginnt der erste Teil verstörend amüsant. Während Patrick Melrose am Telefon vom Tod seines Vaters erfährt, dessen Asche er aus New York heimholen soll, tastet er nervös nach der Spritze des letzten Drucks und quittiert ihren Fund trotz der betrüblichen Botschaft mit einem hinreißend belämmerten Lächeln. Das allerdings erweist sich mit jeder weiteren Sekunde, jeder Rückblende, jedem Tauchgang ins Leben dieses notorischen Junkies als unverhohlene Freude übers Ende von David Melrose. Der gesellschaftlich hochgeachtete, unermesslich reiche, beneidenswert kultivierte Adelsabkömmling hat seinen Sohn als Kind missbraucht. Puh…

Angesichts der Fülle ähnlicher Fälle bis ins ARD-Vorabendprogramm hinein könnte man denken: bitte nicht noch mehr traurige Kinderaugen für die billige Publikumsempathie! Bitte nicht noch ein moralisierendes Rührstück über Pädophilie! Doch nach dem fabelhaften Drehbuch von David Nicholls hält Edward Berger das Totschlagthema sexualisierte Gewalt wie kein Regisseur zuvor im Schatten einer Geschichte, die viel mehr will, als unser Mitgefühl zu kapern. Wenn sich Patrick Melrose also von New York aus auf die Reise durch vier Jahrzehnte seines verkorksten Daseins macht, geht es vor allem um eines: Macht.

Es ist die Macht des Familienoberhaupts, der sein Geld, seine Autorität, seinen Intellekt und Status dafür ausnutzt, bedingungslose Herrschaft übers gesamte Umfeld auszuüben. Die Macht des Rausches, in dem bereits Patricks Mutter alle Antriebslosigkeit wattiert. Die Macht der Gewohnheit, mit der ihr Sohn das Verhalten seiner Eltern reproduziert. Die Macht des Besitzes, der alle drei durch vier Jahrzehnte Leid in Saus und Braus vom eigenen Versagen ablenkt und nebenbei natürlich an untere Einkommensschichten abgibt. Es ist in einem Satz: Die Macht des Mannes über sich und andere. Was im Fall sexuellen Missbrauchs mit krankhafter Pädophilie noch weniger zu tun hat als Vergewaltigung mit Sex.

In den späten Sechzigerjahre nämlich, als das literarische Martyrium von Patrick und Eleanor Melrose auf dem französischen Landgut eines erbreichen Tagediebs in Samtslippern beginnt, ist diese Art realer Herrenmacht zutiefst bürgerlich, also Normalität. Verkörpert wird sie jacknicholsondiabolisch brillant von Hugo Weaving, der sich Jennifer Jason Leigh als ewig sedierte Gattin mit distinguierter Arglist ebenso wie den kleinen Patrick Untertan macht und damit den Grundstein des soziopathischen Wracks legt, das Benedict Cumberbatch später zum Niederknien tragikomisch spielt.

Der wichtigste Nebendarsteller hat es aber ebenso in sich: Ein Setting, das dem Regisseur trotz bemerkenswerter Werke wie „Deutschland 83“ in seiner deutschen Heimat unmöglich wäre. Zum eindringlichen Soundtrack seines Landsmannes Hauschka, erweckt Edward Berger die Sixties fast ohne Flowerpower zum Leben. Und wer all die Röhrenfernseher oder Wählscheibentelefone nicht weiter beachtet, wähnt sich bei Patricks Kampf gegen seine Dämonen nicht im Jahr 1982, sondern einer zeitlosen Epoche männlicher Machtkämpfe. Benedict Cumberbatch macht sie zu einer Sensation zeitgemäßen Fernsehens. Schade, dass Edward Berger sowas nicht auch mal zuhause machen darf.

Sky 1 zeigt die Serie immer dienstags um 20:15 Uhr. Sie steht auch bei den diversen Sky-Abrufdiensten zum Streamen bereit.