Wenn Sie das hier lesen, ist ProSieben schon seit mindestens acht Stunden in den Händen von zwei irren Entertainment-Heinis, die dort noch bis Mitternacht anstellen dürfen, was sie wollen, und gerade läuft vielleicht "Frühstücken LIVE mit coolen Ideen". So eine programmplanerische Geiselnahme unter Freunden hat es im deutschen Fernsehen bislang noch nicht gegeben. War aber längst allerhöchste Zeit dafür.

Ich kann das erklären: Weil derzeit die Jubiläumsstaffel von "Joko und Klaas gegen ProSieben" mit der 50. Ausgabe gesendet wird, hat sich der Sender breitschlagen lassen, seinen beiden fleißigsten Mitarbeitern im Falle eines Showgewinns die Weisungsbefugnis für einen ganzen Programmtag zu übertragen. In der vergangenen Woche ist dieser Fall nach erfolgreich absolviertem "Brösel-Badminton", "The Muted Singer", Luntenüberbrücken und "Das Gegenteil von" tatsächlich eingetreten.

Einlösedatum der Spielschuld: heute. Was genau läuft? Mal abwarten.

Nicht viel kaputtzumachen

Aus Unternehmenssicht dürfte das insofern verschmerzbar sein, als dass sich sonntags im regulären ProSieben-Programm mit den Wiederholungen von "The Masked Singer" und "Joko & Klaas gegen ProSieben" sowie "taff Weekend" und dem Hollywood-Film abends ohnehin nicht viel kaputtmachen lässt. (Außer halt "Newstime" mal wieder.)

Wobei angesichts des per ominösem "Programmzettel" angekündigten "Premium Entertainments" (inklusive "dem gescheitertsten TV-Experiment aller Zeiten [for real]" und "Worst of [mit uns]") zumindest Hoffnung besteht, die vorübergehende Programmdirektion könnte die Gelegenheit nutzen, Ausschnitte aus ihrem längst vergessenen Senderwirken aus dem Archiv zu hieven: etwa Höhepunkte von "Die Rechnung geht auf uns", dem Bundeszentrale-für-politische-Bildung-gesponserten "Ahnungslos – Das Comedy-Quiz" – oder wenigstens wie Klaas in seiner kurzen Phase als Teenieschwarm mal neben Detlev D! Soost in der Jury von "Mascerade – Deutschland verbiegt sich" saß.

In jedem Fall ist die ungewöhnliche Aneignung ein untrügliches Zeichen dafür, wie sehr das Fernsehen es gelernt hat, im Aufmerksamkeitswettbewerb mit den großen Streamingdiensten zunehmend seine eigenen Stärken auszuspielen. (Selbst die, die ihm ursprünglich mal als Schwächen ausgelegt wurden.)

Ich wär so gern wie du-hu-hu

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass den Sendern angesichts der neuen Konkurrenz von Netflix & Co. eine düstere Zukunft prognostiziert wurde: Plötzlich ließen sich hochwertig produzierte Serien gegen geringe Gebühr werbefrei am Stück weggucken, das Zeitalter des Binging hatte begonnen. Und das Fernsehen sah plötzlich nicht nur ganz schön alt aus, sondern galt vielen auch als zu träge, zu festgefahren, zu unflexibel.

Die Sender passten sich zwangsläufig an, verlagerten Budgets in günstiger zu produzierende Genres oder zeigten neue Serien linear ebenfalls am Stück. Mittelfristig würden einzig Live-Sport und große Shows als Kernkompetenzen verbleiben, waren sich große Teile der Branche damals einig.

Aber schon seit einer Weile hat sich der Wind gedreht: Plötzlich werden die Streamer dem klassischen Fernsehen immer ähnlicher. Sie zeigen auch Sport und produzieren Reality Shows; Abotarife mit Werbeunterbrechung sind inzwischen die Regel; dazu werden Fast Channels mit festen Programmabläufen immer beliebter, weil sich bei denen niemand umständlich heraussuchen muss, was sie bzw. er als nächstes ansehen möchte.

Nach fünf Minuten volle Action

Währenddessen rücken die Sender zwar die eigenen Streamingplattformen zunehmend in den Vordergrund. Gleichzeitig setzt sich in den Programmdirektionen allerdings die Erkenntnis durch, dass sich auch mit einem etablierten Medium ganz gut ein Buzz erarbeiten lässt, den keine noch so teure Plakatkampagne erkaufen kann: mit der Power of Live und einer Eventisierung des Linearen.

Wie das erste funktioniert, hat RTL gerade bei "Denn Sie wissen nicht, was passiert" vorgemacht. Anfang April startete die Jauch-Gottschalk-Schöneberger-Show nicht nur mit ungewohntem Tempo in die neue Staffel: Nach einem gespielten Anfangs-Gag mit den Ehrlich Brothers sang Sasha ein Intro mit Band, in dem er Gottschalk zum Moderator machte, und kurz nachdem Spielleiter Thorsten Schorn die aktuellen Bundesliga-Ergebnisse kommentiert hatte, fegten Schöneberger, Jauch & Co. bereits auf Feuerlöscher-betriebenen Drehstühlen übers Hürther Studiogelände – da waren bloß die ersten zehn Minuten rum.

Die eigentliche Besonderheit des Abends folgte jedoch später – mit dem Spiel "Stars am Telefon". Bei dem wurden Punkte ohne eigenes Zutun der Teams vergeben. Einzige Voraussetzung: Die Promikandidat:innen mussten auf ihren (zuvor einkassierten) Handys von anderen Promis angerufen werden, die gerade zuhause vor dem Fernseher selbst die Show sahen.

Das besondere Gefühl von Live

Binnen Sekunden hatte Sophia Thomalla Tim Mälzer dran: "Ich sitz' grade auf dem Sofa und hab Abwasch gemacht." Marco Schreyl kam bei Schöneberger nicht durch, dafür aber RTL-Chef Stephan Schmitter bei Jauch, während Gottschalk den Kollegen Mike Krüger an Torsten Sträter im Studio weiterreichte, der mit dem Supernasen-Handy aber lieber "noch schnell eine Überweisung tätigen" wollte, bevor Kathi Witt als Doppel-Olympiasiegerin unter der Jauch-Nummer als Nachzüglerin eintrudelte.

Nüchtern betrachtet waren das bloß zehn Minuten heiteres Durcheinander-Gequassel ohne tieferen Sinn; aber halt auch ein Live-Moment, wie man ihn bei Netflix, Disney+ & Co. vergeblich suchen würde.

Beim Wettbewerber ProSieben hat man derweil verstanden, dass Fernsehen gar nicht unbedingt Live sein muss, um besondere Qualitäten zu entfalten – sondern im Zweifel bloß so auszusehen braucht. Im DWDL-Interview erklärte Senderchef Hannes Hiller gerade, bei "Wer stiehlt mir die Show?" im Schnitt explizit das Live-Feeling der Aufzeichnung zu erhalten: "Luft zu lassen und auch Pannen stehen zu lassen beispielsweise".

Eventisierte Programmkaperung

Gleichzeitig hat er den Begriff der "verlässlichen Überraschung" geprägt, die er für die Programme seines Sender einsetzt. "WSMDS" ist das offensichtlichste Beispiel dafür: Wenn er Pech hat, verliert Joko die Moderation seiner eigenen Show. Jede:r weiß, dass das passieren kann; es wird unter Garantie auch passieren. Aber wenn's tatsächlich soweit ist, sind natürlich trotzdem alle gespannt, was dann los ist.

"Joko & Klaas gegen ProSieben" ist eine weitere Spielart: Vordergründig ist die Produktion eine kreativ umgesetzte, aber letztlich gewöhnliche Spielshow. Besonders wird sie durch ihren Einsatz: dass die Namensgeber im Siegesfall am darauffolgenden Abend eine Viertelstunde Programm zur freien Verfügung haben.

Diese "15 Minuten" sind längst legendär; vor allem aber sind sie ein schlaues Spiel mit den Konventionen des linearen Fernsehens – und jedes Mal eine "verlässliche Überraschung", weil die Zuschauer:innen bis zum Beginn nicht wissen, was sie erwartet. Und der Sender das dadurch forciert, dass die eventisierte Programmkaperung nur einmalig in Echtzeit konsumiert werden kann.

Wo Unmögliches möglich wird

Die Komplettübernahme des Sonntags ist in gewisser Weise die konsequente Steigerung. Und dass es sich dabei – wie bei so mancher Joko-und-Klaas-"Überraschung" – um einen Taschenspielertrick handelt, erstmal zweitrangig.

Aller Voraussicht nach wäre es wohl keine Option gewesen, den besonderen Hauptgewinn zwar anzukündigen, ihn dann im Laufe der Staffel aber nicht erspielen zu lassen; womöglich ist nichtmal der Zeitpunkt Zufall – zumindest wäre es für ProSieben höchst unpraktisch gewesen, Joko und Klaas etwa den kommenden Sonntag zu überlassen, wenn ProSieben bei "ran racing" die DTM 2024 live zeigen will. Aber – was soll's: Entscheidend ist am Ende, dass das Publikum ProSieben wegen solcher Aktionen nach wie vor als Medium wahrnimmt, in dem auch Unmögliches möglich ist – und eintritt.

Es gibt da nur zwei klitzekleine Probleme: Das Spiel mit der Einmischung ins gewohnte Programm und die unterhaltende Zweckentfremdung linearer Konventionen muss immer wieder neu ausgedacht werden. Das ist mühsam.

Die Joko-und-Klaas-Heimat Florida Entertainment gehört bislang zu den wenigen deutschen Produktionsfirmen, die bereit sind, den Aufwand dafür in Kauf zu nehmen. (Bei Raab Entertainment scheint man die Herausforderung ebenfalls annehmen zu wollen, I&U hat auch schon fleißig gebübt.)

Ein gewisser Abnutzungseffekt

Gleichzeitig ergibt sich nach sieben Staffeln "Joko & Klaas gegen ProSieben" (wie bei so vielen Florida-Produktionen) ein gewisser Abnutzungseffekt; nach all den "15 Minuten" werden immer neue Steigerungen, immer ungewöhnlichere Ideen notwendig, die im Zweifel auch zu überkomplizierten Quatschkonstrukten wie der "Schatzsuche" im vergangenen Jahr führen. (Für deren guten Zweck im Nachhinein mehrere "Reminder" in den sozialen Medien nötig waren.)

All das schmälert aber nicht die wertvolle Erkenntnis, dass das Fernsehen sehr, sehr gut auch gegen große Streamingdienste mit gigantischen Budgets und üppigen Rechtekatalogen bestehen kann – nämlich, wenn es dem Publikum regelmäßig in Erinnerung ruft, wie besonders Entertainment sein kann, das die Stärken von Live zu nutzen weiß und Linearität nicht als Hindernis sieht, sondern als Chance.

Also, vorausgesetzt in Unterföhring geht am heutigen Sonntag vom vielen Quatsch nicht ein großer deutscher Fernsehsender kaputt.

Und damit: zurück nach Köln.

ProSieben zeigt "Joko & Klaas gegen ProSieben" dienstags ab 20.15 Uhr.