Herr Wunn, freuen sich die Brasilianer auf die Fußball-Weltmeisterschaft?

Brasilien ist noch nicht so richtig in WM-Stimmung. Ich habe erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal ein Brasilien-Fähnchen an einem Auto gesehen. Bei früheren Weltmeisterschaften herrschte in den Wochen vor Anpfiff eine wesentlich bessere WM-Stimmung. Diesmal ist die Stimmung schon gedämpft, was damit zu tun hat, dass die Unzufriedenheit im Land groß ist. Es hat in den letzten Wochen immer wieder Demonstrationen und Streiks gegeben. Das ist nicht der große Anti-WM-Protest wie noch vor einem Jahr, als Hunderttausende auf die Straßen gingen. Es gibt allerdings viele kleine Demos, die reichlich Unruhe ins Land bringen.

Im vergangenen Jahr kam es während des Confed-Cups zu massiven Ausschreitungen. Wie hat sich das Land seither verändert?

An den Problemen, gegen die die Menschen damals protestierten - also schlechtes Bildungssystem, schlechte Infrastruktur, schlechtes Gesundheitssystem und Korruption bei gleichzeitigen Milliardenausgaben für die WM-Stadien - hat sich überhaupt nichts geändert. Dass die Proteste kleiner geworden sind, hat auch damit zu tun, dass die Polizei sehr rigoros durchgegriffen und schnell mit Tränengas oder Schreckbomben reagiert hat. Das hat vielen Angst gemacht und dazu geführt, dass man lieber zu Hause geblieben ist.

Gibt es von Seiten der Regierung keine Bemühungen, die Situation der Menschen aktiv zu verbessern, um bei der WM ähnliche Ausschreitungen wie damals zu verhindern?

Natürlich hat die Präsidentin versprochen, mehr in die Infrastruktur zu investieren und auch für eine bessere gesundheitliche Versorgung zu sorgen. Das alles sind aber Versprechungen, die die Brasilianer schon lange kennen. Es wird viel davon gesprochen, dass hier vor der WM alles Schminke ist. Dementsprechend hofft die Regierung auf einen möglichst friedlichen Ablauf des Turniers. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im Oktober ist aktuell mit nicht allzu viel Bewegung zu rechnen.

Was bedeutet all das für die Berichterstattung, die wir in den kommenden Wochen über Brasilien erleben werden?

Wir haben uns für die Berichterstattung drei große Themenkomplexe gesetzt. Einerseits Proteste und Streiks, die dazu genutzt werden, um auf die gesellschaftlichen Probleme hinzuweisen. Wenn das zunimmt oder gar in Gewalt ausartet, dann wird das sicherlich für uns ein Hauptschwerpunkt sein. Der zweite Punkt ist die Infrastruktur, die in Brasilien ein riesiges Sorgenkind ist. Schon jetzt berichten wir über das Stadion in São Paulo, das zwar bespielbar ist, aber ganz bestimmt nicht rechtzeitig fertig werden wird. Gleiches gilt auch für den öffentlichen Nahverkehr oder die Flughäfen. Der dritte Komplex unserer Berichte wird die Stimmung sein. Ich gehe schon davon aus, dass man die typische Fußballbegeisterung, die man aus Brasilien kennt, noch spüren wird.

Haben Sie die Sorge, dass Sie am Ende gewissermaßen als Spielverderber dastehen könnten, weil es auf der einen Seite ja den Glanz des Fußballs geben wird, auf der anderen Seite aber eben auch all die erwähnten Missstände?

Ich habe keine Sorge davor, als Spielverderber wahrgenommen zu werden. Mein Job ist es, darüber zu berichten, was ist. Und wenn die WM tatsächlich ein rauschendes Fußballfest werden sollte, dann wird das selbstverständlich auch ein Schwerpunkt sein. Aber man darf die Probleme trotzdem nicht verschweigen.

Wie berichten eigentlich die brasilianischen Medien über diese Probleme?

In den hiesigen Medien findet das alles schon statt. Es gibt manchmal Kritik am großen Fernsehsender Globo, weil er als zu regierungsfreundlich wahrgenommen wird. Allerdings berichtet der Nachrichtensender von Globo sehr oft von den Demonstrationen und auch in den Zeitungen findet man kritische Berichte über die Missstände hier im Land - vielleicht nicht genug, vielleicht fehlt da manch tiefgehender Blick und investigative Recherche. Aber es ist nicht so, dass die Probleme ausgeblendet werden. Das würde auch gar nicht gehen.

Wo werden Sie während der WM im Einsatz sein?

Wir vom ZDF-Studio in Rio de Janeiro sind nicht für die Fußball-Berichte zuständig, sondern für all das, was außerhalb der Stadien passiert. Normalerweise bin ich als Korrespondent alleine mit meinem Team in Rio, aber schon seit Februar haben wir einen zweiten Reporter für ein halbes Jahr ausgeliehen. Seit Juni haben wir darüber hinaus noch zwei weitere Reporter-Kollegen mit Teams und zwei Koordinatoren vor Ort. Wir alle sind zunächst in unserer Basis in Rio, weil man hier viele Themen, die das Land bewegen, sehr gut spiegeln kann. Aber wir werden uns selbstverständlich bewegen und etwa beim Eröffnungsspiel in São Paulo sowie allen Spielen der deutschen Mannschaft sein. Und überall dort, wo etwas passiert.

Und dann geht es sicher auch darum, auch die versteckten Geschichten zu finden?

Das ist mir ein wichtiges Anliegen. Die WM wirkt ja wie ein riesiges Brennglas, das dazu führt, die Probleme deutlicher sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist mir sehr daran gelegen, diese faszinierende Kultur, aber auch die Offenheit der Menschen und deren Begeisterung für Fußball und Rhythmus nach Deutschland zu transportieren. Das kann man in der Tat in vielen kleinen Geschichten sehr gut zeigen, die ich normalerweise - wenn keine WM stattfindet - in dieser Form gar nicht so sehr ins Programm bekomme.