Was ist "Charité" bislang nur für eine großartige Serie gewesen! Die drei bislang gezeigten Staffeln orientierten sich stets an realen Vorbildern und spielten wahlweise in der Zeit von Robert Koch und Paul Ehrlich, während des Zweiten Weltkriegs und zur Zeit des Mauerbaus 1961. Damit war die Serie im besten Sinne öffentlich-rechtliches Fernsehen. Mit der neuen Staffel gehen die ARD und UFA Fiction nun aber völlig neue Wege: Die Handlung ist im Jahr 2049 angesiedelt, für sie gibt es also keine historischen Vorbilder. 

Dieses Szenario kann herausfordernd sein - oder eben eine Chance. Frei von realen Begebenheiten aus der Vergangenheit konnten die Autorinnen Tanja Bubbel und Rebecca Martin sowie Regisseurin Esther Bialas kreativ aus dem Vollen schöpfen und eine Welt erschaffen, wie sie sie sich vorstellen. Und wer die Folgen sieht, stellt schnell fest: Das Jahr 2049 ist clever gewählt. Denn es ist so weit in der Zukunft, um durchaus einige Veränderungen zu erzählen. Andererseits ist es kein Jahr, das so weit entfernt ist, dass man sich schon über fliegende Autos, zerfallene Gesellschaften oder sonstige Science Fiction Gedanken machen müsste. 

Im Jahr 2049 funktioniert in der neuen Staffel von "Charité" viel per Sprachsteuerung, allen voran das Telefonieren mittels eines fast unsichtbaren Geräts, das die Menschen am Ohr tragen. Dass die Angerufenen trotzdem einfach nicht abheben können, ist eine vielleicht beruhigende Erkenntnis. Menschen mit unterschiedlichen Sprachen können sich dank Echtzeit-Übersetzung problemlos unterhalten, das Desinfizieren funktioniert mittlerweile via UV-Licht, beim Aufwachen wird man direkt über die eigenen Vitalwerte informiert und Organe, die transplantiert werden müssen, kommen aus dem 3D-Drucker. Das alles ist die Realität in der neuen Staffel von "Charité". 

Es gibt sie aber durchaus, die Schattenseiten im Jahr 2049. Alle Menschen in Deutschland haben durch eine Gesundheitsreform nämlich sogenannte Scoring-Punkte, anhand derer man erkennen kann, was jede einzelne Person für ihre Gesundheit tut. Ist der Score zu schlecht, übernimmt die Krankenkasse im Zweifel die Behandlungskosten nicht - und der vollautomatische OP-Roboter verweigert den möglicherweise lebensrettenden Eingriff. Wirtschaftlich schwache Menschen fallen so eher durchs Raster. Das alles führt zu Protesten und auch innerhalb der Charité ist die Reform umstritten. 

Eine Zukunft, die Hoffnung macht

Im Mittelpunkt stehen Maral Safadi (Sesede Terziyan) und ihre Mutter Seda Safadi (Adriana Altaras), letztere ist eine anerkannte Chirurgin. Während die junge Maral Leiterin der Mikrobiologie wird und an der Gesundheitsreform mitgearbeitet hat, schlägt sich ihre Mutter schon früh auf die Seite der Schwachen, was ihr eine Menge Probleme beschert. Die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter muss aber warten, als Maral einen bislang unerkannten bakteriellen Erreger entdeckt, der lebensbedrohliche Symptome hervorruft. Es herrscht ein bisschen Weltuntergangsstimmung, die den Zuschauerinnen und Zuschauern aus den ersten Tagen der Corona-Pandemie bekannt vorkommen könnte. 

Die neuen "Charité"-Folgen sind aber keine Dystopie - und das trotz der Tatsache, dass das bislang unbekannte Bakterium ausgerechnet durch die globale Erderwärmung freigesetzt wurde und es in Deutschland so heiß ist, dass die von der Politik gesetzten Maßnahmen gegen das neue Bakterium kaum durchzuhalten sind. Erzählt wird eine Geschichte, die auch immer wieder Hoffnung macht. Etwa dann, wenn man sieht, wie Krebs inzwischen fast vollständig besiegt ist, weil es dafür eine Impfung gibt. Oder wie sich gelähmte Personen in einer virtuellen Welt bewegen können. Auch die Blutanalyse dauert 2049 nur noch wenige Sekunden. Die Macherinnen und Macher setzen damit einen schönen Gegenpunkt zu den scheinbar nicht enden wollenden schlechten Nachrichten der Gegenwart.

Charité, 4. Staffel © ARD/MDR/ARD Degeto/Arte/Ufa Fiction/Armanda Claro So wird im Jahr 2049 operiert: Eine Ärztin steuert mittels VR-Brille einen OP-Roboter.

Stellenweise wirkt es aber so, als wollte "Charité" zu viel. Die Protest-Szenen vor der Klinik etwa wirken oft wie ein lästiges Anhängsel, das man noch kurz erzählen muss, damit die Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen, wie angespannt die Stimmung im Land ist. Und dann ist da auch noch ein Hackerangriff, der vergleichsweise hemdsärmelig durchgeführt wird. Das vermittelt nicht unbedingt den Eindruck, als hätte man die Zukunft in allen Szenen mit voller Konsequenz zu Ende gedacht.  

"Wir haben versucht viel zu erzählen, weil wir in einer Zeit leben, in der viel los ist. Dennoch mussten wir einiges auslassen. Und es war eine schwierige Entscheidung, gewisse Themen nicht zu erzählen. Das war aber wichtig, damit wir uns fokussieren", sagt Regisseurin Esther Bialas im Gespräch mit DWDL.de. Das geht schon bei der Frage nach dem politischen System und verschiedenen Parteien los. So nimmt zwar der Gesundheitsminister eine wichtige Rolle in der Serie ein, viel mehr als seine persönlichen Probleme und seine Haltung zur Gesundheitsreform erfährt man aber nicht. 

"Charité" berlinert nicht mehr so sehr

Als größte Herausforderung bezeichnet Esther Bialas es unter anderem, sich eine utopische Zukunft vorzustellen: "Sich über die Zukunft Gedanken zu machen, und das nicht nur im negativen Sinn." Das sei aber auch das größte Geschenk gewesen. Gedreht wurde nicht etwa in Berlin oder woanders in Deutschland, sondern in Portugal. Dort hat man einen futuristisch anmutenden Campus gefunden. Dazu gab es dort während des Drehs viel Sonne, die zum Look and Feel beigetragen hat. Bei einer Serie, in der es auch um die Klimakrise geht, ist das unumgänglich. "Das hätten wir in Deutschland so niemals hinbekommen", sagt Bialas. 

Portugal sorgte aber auch dafür, dass es gar nicht so einfach war, die Handlung in Berlin spielen zu lassen. Gelöst hat man das dadurch, dass man den Campus ab und zu in der Totalen gezeigt und im Hintergrund die Berliner Skyline eingebaut hat. "Wenn wir ganz viel Geld gehabt hätten, hätten wir es leichter erfüllen können. In dem Fall haben wir einfach viel weggelassen und uns darauf konzentriert, eine Totale zu machen, in der klar zu erkennen ist, dass die Handlung in Berlin spielt", erklärt die Regisseurin. Wer die Berliner U-Bahn im Jahr 2049 sucht, wird also nicht fündig. Das alles sorgt dafür, dass es in der vierten Staffel von "Charité" deutlich weniger berlinert als in den Staffeln zuvor. 

"Das hätten wir in Deutschland so niemals hinbekommen."
Regisseurin Esther Bialas über die Dreharbeiten in Portugal


Um eine Idee davon zu entwickeln, welche Themen im Jahr 2049 aktuell sein könnten, haben die Macherinnen und Macher nicht nur mit Medizinern gesprochen, sondern auch mit Zukunftsforscherinnen. Dass letztere sagten, in der Vergangenheit hätte immer auch der Zufall eine große Rolle gespielt, habe für eine gewisse Beruhigung gesorgt, sagt Regisseurin Esther Bialas. Dadurch sei das Team frei gewesen und konnte sich ohne Zwänge fiktive Gegenstände und/oder eben Herausforderungen für die Figuren ausdenken. Gleichzeitig betont Bialas, dass vieles, das in der Serie zu sehen und heute noch Utopie ist, bereits in der Entwicklung sei. Ganz weit hergeholt sind die Dinge also nicht - auch nicht die sogenannte Mikrobiom-Therapie, die in der Serie das Zeitalter von Antibiotika-Medikamenten beendet. Die Filmemacherinnen und Filmemacher haben den aktuellen Stand der Wissenschaft nur etwas weitergedacht. 

Das hat übrigens länger gedauert als in der Vergangenheit. Lagen zwischen den verschiedenen "Charité"-Staffeln bislang meist rund zwei Jahre, so verging jetzt mehr Zeit. Zuletzt war die Serie Anfang 2021 zu sehen. Die längere Entwicklungszeit ist laut Adrian Paul, Redaktionsleiter Fernsehfilm beim MDR, auf zwei Faktoren zurückzuführen, wie er gegenüber DWDL.de erklärt: Einerseits war da das Fehlen von historischen Vorbilder, an denen sich die Autorinnen hätten orientieren können. So musste man alles neu denken. "Das war, trotz intensiver Recherche und toller BeraterInnen sehr zeitintensiv." Und dann war da ja auch noch Corona. Die Arbeiten an der vierten Staffel begannen im April 2020, also zur Zeit des ersten Lockdowns. 

Programmierung zeigt "Sonderstellung der Serie"

Ob es eine Fortsetzung, die dann womöglich noch weiter in der Zukunft spielen könnte, gibt, ist unterdessen noch nicht entschieden. "Mit der 'Charité 4' wollen wir möglichst viele Menschen erreichen und unterhalten. Wenn uns das gelingt, dann sehen wir weiter", sagt Paul. Bei der nun anstehenden Ausstrahlung setzt man übrigens auf eine neue Strategie. Im Ersten sind die Folgen nicht mehr wöchentlich zu sehen, sondern an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Durch das Aufbrechen des klassischen Sendeschemas unterstreiche man für die Zuschauenden die "Sonderstellung der Serie", sagt MDR-Redaktionsleiter Adrian Paul. 

Es ist leicht, bei Near-Future-Stoffen nach vermeintlichen Fehlern oder Ungereimtheiten zu suchen. Insgesamt ist die neue Staffel "Charité" aber eine in sich stringent erzählte Geschichte, in der auch mögliche Errungenschaften der Menschheit gewürdigt werden. Das ist naturgemäß mal mehr, mal weniger realistisch, regt aber immer wieder dazu an, sich eigene Gedanken über die Zukunft zu machen. Und so ist auch die neue Staffel von "Charité" im besten Sinne öffentlich-rechtliches Fernsehen. 

Das Erste zeigt am 9., 10. und 11. April jeweils zwei Folgen von "Charité" zur besten Sendezeit ab 20:15 Uhr. Alle Episoden stehen bereits jetzt zum Abruf in der ARD-Mediathek bereit.