Die erste Staffel von "Jessica Jones" war überragend: Eine gebrochene Superheldin, wie ich sie vorher noch nicht gesehen hatte, in einer düsteren Geschichte über Vergewaltigung, Ohnmacht und Trauma. Und die zweite? Ist sie genauso gut? Oder sogar noch besser? Natürlich waren die Erwartungen sehr hoch, auch bei mir. Allerdings nicht so hoch, dass sie nicht erfüllbar gewesen wären. Denn während viele vermutlich auf eine ähnlich spannende Superheldinnen-Geschichte hofften wie in Staffel eins, hoffte ich darauf, möglichst viel von diesem Charakter (gespielt von Krysten Ritter) zu sehen, zu spüren, kennenzulernen, der mich Ende 2015 so fasziniert hatte. Um es vorwegzunehmen: Meine Erwartungen wurden voll erfüllt. Ich habe 13 Folgen in Jessica Jones' schwieriges Leben eintauchen dürfen, an ihrer Seite erleben dürfen, was es bedeutet, sie zu sein - mit all ihren furchtbaren Erfahrungen und Herausforderungen. Ich habe jede Minute geliebt - wie auch in Staffel eins.
Der folgende Text über Staffel 2 enthält übrigens KEINE Spoiler.

Aber: Diese Staffel ist anders als die erste. Und ich kann alle verstehen, die nach Folge 4 sagen: "Mir ist immer noch nicht klar, worauf das hinauslaufen soll, vielleicht höre ich auch einfach auf und gucke was anderes". Denn das eigentliche Thema wird erst in Folge 6 klar, was - ohne Frage - seeehr lange dauert. Anders als ich - die ich mich einfach an Jessica Jones' Fersen geheftet, interessiert jeden noch so kleinen Handlungsstrang verfolgt und mich darauf verlassen habe, dass das alles zusammengeführt wird - erwarten viele von einer Superheldinnen-Serie früh sichtbare greifbare Gegner, am liebsten einen wie Kilgrave in Staffel eins. 

Es ist gewagt, die Staffel so aufzubauen, dem Erforschen der Psyche der Figuren viel Raum zu geben und gleichzeitig die eigentliche Handlung stark zu verlangsamen. Besonders in einer Zeit, in der wir von so vielen hochwertigen Serien umgeben sind, dass wir längst nicht mehr alle gucken können. Wer auf dem Sofa - außer absoluten Hardcore-Fans der Hauptfigur wie ich - gibt denn einer Staffel sechs Folgen, um mit ihr warm zu werden? Nicht wissend, ob das, worauf man hofft, tatsächlich irgendwann eintreffen wird? Auch wenn ich jetzt hier gefettet schreibe: Ab Folge 6 wird es richtig, richtig gut! So bleiben doch noch fünf Folgen, für die man erstmal die Zeit aufbringen muss. Schwierig. 

Und hier drängt sich wieder die Frage auf, die sich schon bei einigen Netflix-Eigenproduktionen gestellt hat: Warum mussten es 13 Folgen sein? Dieser Staffel hätten 9 Folgen gut getan, vielleicht 10. Einen Handlungsstrang hätte man ganz weglassen können, zwei oder drei etwas kürzen, außerdem in einigen Szenen ein bisschen schneller auf den Punkt kommen. Selbst bei Netflix-Eigenproduktionen ist der Staffelumfang von 13 Folgen nicht mehr so unantastbar, wie er in den ersten Jahren wirkte. Warum nicht jeder Staffel/Geschichte so viel Raum geben, wie sie braucht (in Maßen, natürlich)? 

Wäre die Staffel kürzer gewesen, hätte ich natürlich ein bisschen vor mich hingejammert, dass sie mir zu kurz war. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich mit meinen Erwartungen an die Serie zu einer absoluten Minderheit gehöre. Ich habe nun, nach den 13 Folgen in Staffel 2, das Gefühl, Jessica Jones richtig kennengelernt zu haben, tief in sie reingeschaut zu haben. Sie war zugänglicher für mich als in Staffel 1 und hat eine große Entwicklung durchgemacht. Denn auch wenn die ersten fünf Folgen etwas ziellos wirkten: Sie waren - wie der Rest - sehr gut gemacht.

Man nahm sich in Staffel 2 Zeit für die unterschiedlichen Charaktere (Jeri Hogarth! Malcolm!) und die Gefühle der Hauptfiguren, die Dialoge waren gut, es ging um hochmoralische Fragen und Entscheidungen, Abhängigkeit und Unzulänglichkeit waren großen Themen. Ich mochte die Bildsprache, dieses Mal wirkte die Serie ein klein bisschen heller (was zur besseren Zugänglichkeit der Hauptfigur passt), und die Unschärfen unterstrichen Situationen, in denen große Gefühle oder Alkohol im Spiel war. Und einige Details, die anfangs unwichtig erschienen, entpuppten sich als Anspielungen auf das, was in der zweiten Staffelhälfte kommen würde. Es könnte sogar spannend sein, die ersten sechs Folgen noch einmal zu schauen - vieles erscheint dann vermutlich in einem anderen Licht. Aber so Jessica-Jones-verrückt bin ich dann doch nicht. Oder? Na, vielleicht schaue ich mir bestimmte Szenen tatsächlich noch einmal an.

In den gut zehn Minuten nach dem eigentlichen Ende wurde für eine mögliche Staffel 3 viel angelegt. Und ich hoffe darauf, dass es in der nächsten Staffel nicht mehr nur um Jessicas Vergangenheit geht - die kennen wir jetzt, sie ist mit zwei Staffeln vorerst ausreichend abgearbeitet. Ich würde mich über eine vorwärts gewandte Geschichte freuen, das Potenzial ist da. Jetzt muss Netflix nur noch die Fortsetzung der Serie abnicken. 

"Jessica Jones" läuft bei Netflix.