Amerika ist in Deutschland: Betrachtungen zur US-Wahl

Foto: JohnKerry.comDieses Jahr wird wohl endgültig zur Hochsaison für gigantische Medienereignisse. Nach drei sportlichen Höhepunkten, bei denen die Bilanz unter Gesichtspunkten der Berichterstattung eher mager ausfiel, wartet in den nächsten Tagen ein Fernsehspektakel auf den politisch interessierten Zuschauer, dass sich in Sachen Spannung mit jedem großen Sportereignis messen kann. Ungleich wichtiger aber ist der Ausgang der großen Wahlshow in den USA, und deshalb schöpft der Spannungsbogen aus zwei Faktoren: Nie war eine amerikanische Präsidentschaftswahl so knapp, nie war ihr Ausgang so bedeutsam.

Auch für Europa: Kein anderes Thema hat seit der Bundestagswahl 2002, bei der Gerhard Schröder auch wegen seiner Distanz zum „War President“ Bush wiedergewählt wurde, so nachhaltig für Gesprächsstoff gesorgt. Damals war es noch Harald Schmidt, der in angemessener Deutlichkeit Friedenstauben in sein Studiodekor einbaute. Seit seinem Abgang mssen wir uns begnügen mit der gründlichen, sauberen Berichterstattung der Nachrichtenformate.

Kein Thema stand so sehr im Mittelpunkt von Tagesthemen und heute-Journal wie der Wahlkampf in den USA. Seit der ersten demokratischen Vorwahl in Iowa, bei der völlig überraschend ein Kandidat namens John F. Kerry als klarer Sieger hervorging, berichtet das deutsche Fernsehen intensiv über das Duell.  Alle drei Fernsehdebatten wurden live in drei Kanälen übertragen, Elmar Thevesen redete sich im ZDF den Mund fusselig. Das große Interesse an dieser Wahl wird bedient von Nachrichtensendungen, Talkshows, Themenabenden,  Spielfilmschwerpunkten, Interviews, Live-Kommentaren und Dokumentationen.

Auf das amerikanische Desinteresse am „Alten Europa“ folgt der Umkehrschluss einer einmaligen weltpolitischen Sensibilität. George W. Bush hat
nicht nur hunderttausende Schüler auf die Straßen getrieben und dem Internet einen Politik-Boom beschert. Er sorgt auch dafür, dass wir uns schlicht gut unterhalten fühlen dürfen. Wer wusste vor vier Jahren, als Bush gegen Al Gore antrat, was ein „Swing State“ ist, wer konnte ohne ernsthafte Verrenkungen den Begriff „Electoral College“ aussprechen? Der Konfettihagel von Boston und New York hat eine satte Zuschauerzahl für die Wahlberichterstattung am 2. November gesichert – wenn dies nicht der Bombenhagel von Bagdad bereits getan hat.

So dürfen wir uns auf Peter Kloeppel freuen, der just in diesen Tagen zum RTL-Chefredakteur befördert wird. Der ehemalige USA-Korrespondent, der auch am Dienstagabend live aus den Staaten berichten wird, hat auf der Suche nach der amerikanischen Geschichte gemeinsam mit Matthias Brauckmann zwei Mal eine Stunde Dokutainment abgefilmt, bei der zwischen Roosevelt und Bush, New Jersey und San Francisco unter anderem Gerhard Schröder, Helmut Kohl, Henry Kissinger und sein Schwager zu  Wort kommen.

Foto: GeorgeWBush.comAuch der ARD-Weltspiegel, der den Zuschauer in den letzten Monaten kontinuierlich mit Stimmungsbildern aus dem Präsidentschaftswahlkampf versorgt hat, widmete sich am Sonntag der Wahl. Tina von Hassel machte einen Spaziergang durch das politische Washington und sucht nach Orten, die mehr oder weniger mit dem Wahlausgang zu tun haben könnten. Tom Buhrow fuhr quer durch Florida, dem größten der vielen Swing-States, dessen 21 Wahlmänner im Electoral College den Ausschlag geben könnten. Er suchte nach den 120.000 Neuwählern und den Unentschlossenen, die den Spannungsbogen dieser Wahl nach oben treiben.  Christiane Meier meldete sich aus Bush-Country Texas, dem Bundesstaat, in dem wohl am wenigsten Wahlkampf betrieben wurde, weil seine 34 Wahlmänner mit größter Wahrscheinlichkeit dem Amtsinhaber zufallen. Sie traf an Tankstellen, Andenkenladen und Coffeeshops auf das „republikanische Lebensgefühl“. 

Zur Weltspiegel-üblichen Ausgewogenheit trug auch der Bericht von Gerald Baars bei, der auf den Straßen New Yorks die Menschen, die den amerikanischen Traum ausgeträumt haben, die arbeitslos sind oder sich mit zahlreichen Minijobs notdürftig über  Wasser halten, befragte. Schlussendlich kümmerte sich Irak-Korrespondent Jörg Armbruster um einen ganz besonderen „Battleground State“: Er berichtete von einem US-Basislager in Kuwait.

Es ist schlicht beeindruckend, wie dicht und umfassend der deutsche Fernsehzuschauer abseits der Nachrichtenticker über die Verhältnisse vor diesem wichtigen Tag informiert wird. Dies zeigt vorbildhaft 3sat, das einen gesamten Sendetag Stars and Stripes zeigt. Das Programm sollte einfach aufgezählt werden: Um 15.oo Uhr beschäftigt sich das Theatermagazin „Foyer“ (Moderation: Esther Schweins) mit dem Theater in Amerika.  Um 15.45 Uhr folgt die Reportage „Das Hobo-Abenteuer“, die einen zweiten Blick wert scheint: „Hobos“ sind Zugtramper, die ohne Fahrschein, aber mit einem strengen Ehrenkodex auf den Schienen Nordamerikas unterwegs sind. Der Film aus der Sendereihe „Menschen und Straßen“ von Hartmut Schön folgt ihnen.

Der Kultursender zeigt im Anschluss einen Spaziergang mit Paul Auster durch New York, Specials der Sendungen „nano“ und „Kulturzeit“, den Spielfilm „Smoke“ von Wayne Wang, eine Feature zur amerikanischen Expansions-Philosophie „Der Traum vom Raum“ und wirft im Oscar-nominierten Dokumentarfilm „Ferry Tales“ von Katja Esson einen Blick in die Damengarderobe der Passagierfähre von Staten Island. Der Jim-Jarmusch-Klassiker „Down by Law – Alles im Griff“ und eine Expedition In den Großstadtdschungel und „Menschenzoo“ Lower East Side und ein New York-Musikspecial beschließen den beeindruckenden Sendeschwerpunkt.

Gleichsam ein Kontrastprogramm zeigt am Montagabend ProSieben,  das – dem Wunsch Michael Moores folgend – dessen jüngstes Anti-Bush-Feuerwerk „Fahrenheit 9/11“ ausstrahlt. Moore hat diesen Sendetermin bei seinem Verleih eingefordert, und sorgt damit für die wohl schnellste Free-TV-Ausstrahlung der Geschichte. Wann, wenn nicht an diesem Montag, sollte ein großes Publikum seinen Film sehen? – Wie immer man zu Michael Moore stehen mag, er unterhält bestens, und vielleicht ist es eine Lösung, in den ProSieben-Werbepausen auf 3sat zu schalten. Wie um 19.00 Uhr hat man auch hier die Wahl zwischen zwei Premium-Programmpunkten. Gesegnet sei der DVD-Rekorder.

Am Dienstagabend ist es soweit. Nahezu alle Sender berichten live aus den USA, das ZDF schickt gar Thomas Gottschalk nach Hollywood. Wer diese Kolumne liest und politischen Enthusiasmus in sich trägt, womöglich noch gute Fernsehunterhaltung mag, wird mich verstehen: Für mich ist es der Höhepunkt dieses Jahres. Vielleicht spricht es nicht für mein Privatleben: Dieser Dienstagabend wird der spannendste meines 21. Lebensjahrs sein. Vielleicht kann es mancher nicht nachvollziehen: Der wird sich beim Lesen dieser Kolumne gelangweilt haben. Mich aber überkommt Gänsehaut, wenn ich an Dienstagabend denke.

In den letzten Monaten war ich oft auf der Internetseite johnkerry.com. „A fresh start for america“ ruft er dort aus, und bei allem Unverständnis mit mancher politischen Position bin ich in den letzten Monaten ein Verehrer Kerrys geworden. Dank des deutschen Fernsehens werde ich Dienstagnacht nicht zu Hause verbringen, sondern im Berliner Tränenpalast, bei der „Vote44“-Party der deutschen Kerry-Unterstützer. Bis dahin werde ich so viel fernsehen wie nie zuvor.