Das erfolgreichste YouTube-Video des vergangenen Jahres in Deutschland war "Corona geht gerade erst los" von Mai Thi Nguyen-Kim - und damit ein Video, das im öffentlich-rechtlichen Kosmos entstanden ist (DWDL.de berichtete). "maiLab", der YouTube-Kanal der Wissenschaftsjournalistin, gehört zu Funk, der jungen Plattform von ARD und ZDF. Aber auch fernab von Funk sind die Öffentlich-Rechtlichen sehr präsent auf der Videoplattform - hier hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Und ARD und ZDF verfolgen sichtbar unterschiedliche Strategien. 

Zu beobachten ist das exemplarisch im Bereich von Comedysendungen. Während die ARD etwa ganze "extra 3"-Ausgaben bei YouTube veröffentlicht, gibt es von der "heute show" nur einzelne Ausschnitte. Das ZDF will die Nutzer so in die Mediathek locken. Eine interne ARD-Studie hat ergeben, dass viele YouTube-Nutzer gar nicht wissen, dass "extra 3" ein Produkt des Senderverbunds ist. Andererseits: Die Redaktion wird durch ihre Strategie mit hohen Abrufzahlen bei YouTube belohnt. Jan Böhmermann geht den Mittelweg: Auch vom "ZDF Magazin Royale" gibt es nicht die ganze Sendung am Stück bei YouTube. Weil man aber die meisten Teile einzeln auf der Plattform verfügbar macht, ist die Sendung dann doch irgendwie fast vollständig auf YouTube zu finden. 

Dieses kleine Beispiel zeigt schon, wie unterschiedlich die Ansätze sind - sowohl zwischen ARD und ZDF, aber auch innerhalb eines Senders. Und auch in anderen Genres gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Die ARD hat etwa bis vor einiger Zeit noch ganze "Tatort"-Folgen und Episoden von "Sturm der Liebe" und "Rote Rosen" auf YouTube veröffentlicht - das macht man inzwischen nicht mehr. Hier nimmt man sich mittlerweile spürbar zurück. Und während die ARD recht früh auf YouTube präsent war, startete das ZDF erst eine Weile später - aber eben ohne ganze Folgen seiner Formate. 

Tanja Hüther © BR/Lisa Hinder Tanja Hüther
Einig sind sich die Vertreter der Öffentlich-Rechtlichen grundsätzlich darin, dass sie mit ihren Inhalten bei YouTube einerseits Reichweite erzielen, andererseits aber auch ihre eigenen Plattformen stärken wollen. Eine Ausnahme ist der Bereich Nachrichten. "Gerade wenn es Breaking News oder gesellschaftlich relevante Debatten gibt, müssen wir mit unserer Berichterstattung auf jeder Plattform sein", sagt Tanja Hüther, Head of Distribution and Digital Platforms bei der ARD im Gespräch mit DWDL.de. Und ihr Kollege Eckart Gaddum, Leiter der Hauptredaktion Neue Medien im ZDF, stimmt zu: "Bei Nachrichten geht es primär um Reichweiten." Jeder biete heute News an, da gehe es darum, schnell und überall präsent zu sein. Hier sei das Ziel, die User auf die eigene Plattform zu holen, verglichen mit anderen YouTube-Kanälen, nachrangig, so Gaddum. 

ARD und ZDF konnten lange nicht so, wie sie wollten

Neben den bereits erwähnten Comedy-Kanälen gibt es eine Reihe von öffentlich-rechtlichen YouTube-Angeboten, die recht erfolgreich sind. Von der ARD sorgen etwa die Kanäle von "Tagesschau", NDR Doku, WDR, "Verstehen Sie Spaß?", BR, SWR oder auch "Checkers Welt" für viele Videoviews. Beim ZDF sind es die Kanäle von "Terra X", "Bares für Rares", "Die WG" oder auch "ZDFheute", die am größten sind und viele Abrufe verzeichnen. Den ZDFheute-Kanal, der erst seit Herbst 2020 in der heutigen Form betrieben wird, bezeichnet Eckart Gaddum als "einen der derzeit spannendsten". So steuern hier verschiedene Redaktionen Videos bei, auch die von "Markus Lanz", "Frontal 21" oder auch des "Auslandsjournals". Performen bestimmte Videos besonders gut, könne man sich gut vorstellen, daraus jeweils einen eigenen Kanal zu machen, so Gaddum gegenüber DWDL.de. 

Eckart Gaddum © ZDF/Rico Rossival Eckart Gaddum
Ganz grundsätzlich konnten die Öffentlich-Rechtlichen viele Jahre nicht so auf YouTube agieren, wie sie das eigentlich wollten. So war im Medienstaatsvertrag festgeschrieben, dass die Aktivitäten der Sender einen Sendungsbezug haben mussten. Dieser ist inzwischen gefallen, seit dem vergangenen Jahr etwa darf das ZDF auch Online-Only-Inhalte anbieten - und das tut man auch. Diese Inhalte sind meist speziell für YouTube konzipiert, es gibt sie aber auch in der Mediathek. Bei "Inside Politix" etwa beantworten Korrespondenten aus dem ZDF-Hauptstadtstudio Fragen zur Bundespolitik und in "13 Fragen" diskutiert eine Runde aus ExpertInnen ein Thema anhand von 13 Fragen. Und auch "Terra X" produziert Teile nur fürs Netz, die "heute show" und das "ZDF Magazin Royale" sowieso. Derzeit testet man außerdem das Format "Trending" der "Auslandsjournal"-Redaktion. "Ziel ist es, das Format später auch regelmäßig als ‘Aussteiger’ im auslandsjournal zu senden", sagt Eckart Gaddum. 

Bei der ARD ist die Lage mit den Online-Only-Formaten unübersichtlicher, weil grundsätzlich jede Landesrundfunkanstalt autonom handelt. So entscheiden alle Sender eigenständig, welche Inhalte sie auf die Plattform stellen und was sie vielleicht nur für YouTube und die Mediathek produzieren. So hat der SWR gerade erst eine Reihe von neuen Online-Formaten angekündigt (DWDL.de berichtete) und war schon vorher mit einem Online-Ableger von "Verstehen Sie Spaß?" aktiv in diesem Bereich. Der BR bringt seine "News-WG", zunächst ein Instagram-Format, nun außerdem auch zu YouTube. Und auch die WDR-Sendung "Quarks" produziert Online-Inhalte, zuletzt kündigte der Sender außerdem eine Late-Night mit Daniel Donskoy an, die vor allem bei Youtube und in der Mediathek laufen wird.  

ARD erwartet Konsolidierung

Im Allgemeinen herrscht noch viel Trial & Error, vor allem bei der ARD. Da entstehen dann neue Kanäle und werden für wenige Wochen mit Videos gespeist - und im Zweifel ist dann eben auch schnell wieder Schluss. Tanja Hüther erwartet daher auch in den nächsten ein bis zwei Jahren eine Konsolidierung der YouTube-Kanäle der ARD - noch beschäftigt man sich mit der Frage einer senderübergreifenden Strategie. Hüther verweist aber auch auf den Plan, mit bereits etablierten YouTubern Formate zu entwickeln bzw. sie in bestehende Sendungen zu holen, ähnlich wie es Netflix mit Julien Bam macht. Beim NDR-Talk "deep und deutlich" etwa waren auch immer wieder Menschen zu Gast, die zuvor über verschiedene Social Networks bekannt geworden sind. Ziel: Die Zielgruppe dieser Personen an die Sendung heranführen - und damit auch an die ARD. 

Wenn die User morgen eine neue Plattform entdecken, sind wir weg von YouTube.
Eckart Gaddum, Leiter der Hauptredaktion Neue Medien im ZDF

Grundsätzlich sei es für die ARD aber "unermesslich wichtig, auf externen Plattformen wie YouTube oder Instagram verfügbar zu sein", so Hürther. Man könne dort Kontakt zu bisher nicht erreichten Zielgruppen aufbauen. Letztlich gehe es aber darum, "unsere eigenen digitalen Plattformen zu stärken". Denn, das sagt Hürther auch, auf YouTube könne man den gesetzlich vorgegebenen Auftrag nur bedingt erfüllen. So sei das Kuratieren der Inhalte bei einer durch einen Algorithmus gesteuerten Plattform wie YouTube nur schwer möglich. Auch Eckart Gaddum vom ZDF sagt, man muss auf Portalen wie YouTube sein, um dort Menschen zu erreichen, an die man über die eigenen Angebote weniger gut herankomme. "Unsere Loyalität gehört aber den Inhalten und den Nutzern", sagt Gaddum. Das heißt: "Wenn die User morgen eine neue Plattform entdecken, sind wir weg von YouTube."

Leonhard Dobusch © Olaf Kosinsky (kosinsky.eu); CC BY-SA 3.0-de Leonhard Dobusch
Und während Privatsender lange gegen eine starke Präsenz von ARD und ZDF bei YouTube lobbyiert haben und auch heute am liebsten nur Programmteaser der Öffentlich-Rechtlichen bei YouTube sehen wollen, waren sich Experten schon früh einig, dass die Sender auch dort präsent sein müssten - eben auch um bei jungen Menschen nicht aus dem Blick zu geraten. Leonhard Dobusch sitzt seit 2016 im Fernsehrat des ZDF, er ist dort der Vertreter des Bereichs "Internet" aus dem Land Berlin. Im Brotberuf ist Dobusch Uniprofessor für BWL mit Schwerpunkt Organisation an der Uni Innsbruck. Im Gespräch mit DWDL.de sagt er, für die öffentlich-rechtlichen Sender sei es "essentiell, auf Drittplattformen verfügbar sein zu dürfen, um Zielgruppen zu erreichen". Wenn Menschen, insbesondere aus der Medienbranche, behaupten, ARD und ZDF würden YouTube mit ihren beitragsfinanzierten Inhalten groß machen, kann Dobusch darüber nur lachen. "Wenn ab morgen keine öffentlich-rechtlichen Inhalte mehr auf YouTube wären, würde die Plattform wie bisher funktionieren", sagt er. 

YouTube als "Medienrealität" für ARD und ZDF

Umgekehrt gelte das jedoch nicht. Dobusch: "Wenn ARD und ZDF nicht jetzt beginnen dürfen, auf YouTube mit eigenen Inhalten präsent zu sein, besteht die Gefahr, dass öffentlich-rechtliche Inhalte in die absolute Nische gedrängt werden und keinerlei Relevanz haben." Das werde langfristig zu einem Legitimitätsproblem führen. Auch Eckart Gaddum sieht das so. Der Leiter der Hauptredaktion Neue Medien im ZDF sagt, man dürfe nicht zu Selbstüberschätzung neigen. "Wenn wir dort mit unseren Inhalten dort nicht mehr wären, wäre das für YouTube ein Qualitätsverlust, würde die Plattform aber kaum ins Desaster führen." Tanja Hüther bezeichnet YouTube als "Medienrealität", auf der man präsent sein müsse. Von Claus Grewenig, Vorsitzender des Fachbereichs Fernsehen und Multimedia beim Privatsenderverband Vaunet, heißt es dagegen, ARD und ZDF sollten stets bedenken, wie weit sie mit eigenen Inhalten den "internationalen Wettbewerb" stärken wollen.

Derzeit gibt es aber noch keinen Intendanten und keine Intendantin des 21. Jahrhunderts.
Leonhard Dobusch, ZDF-Fernsehrat und Uniprofessor 

Ein Problem, das auch Dobusch anspricht, ist das Umfeld, in dem die öffentlich-rechtlichen Inhalte auf YouTube stattfinden. Er empfiehlt daher verstärkt Kooperationen mit nicht-kommerziellen Anbietern, etwa Wikipedia. "Terra X" ist hier einer der wenigen Vorreiter und bietet Inhalte unter Wikipedia-kompatiblen Lizenzen an. Wirklich groß ist dieser Bereich bei den Öffentlich-Rechtlichen aber noch nicht. Einige Redaktionen würden das heute schon gerne vermehrt anbieten, dürfen aber nicht. Das größte Problem sieht Dobusch in den Tarifregelungen, die nicht auf freie Lizenzen ausgelegt sind. Stattdessen verhandelt man komplizierte Nachvergütungsmodelle, wie zuletzt die ARD mit den Dokumentarfilmern. Dobuschs radikaler Vorschlag: Neben dem bestehenden System soll ein zweites Modell eingeführt werden, bei dem die Produzenten sofort eine Art Creative-Commons-Bonus erhalten - und dann eben unter freier Lizenz produzieren. Ein etwaiges Wiederholungshonorar würde entfallen.

Dobusch will niemanden dazu zwingen, aber jedem die Möglichkeit geben, dieses Modell zu nutzen. Doch auch auf Seiten der Sender gibt es derzeit offensichtlich niemanden, der in diese Richtung drängt. "Es kann schnell gehen, wenn die Thematik irgendwo zur Chefsache gemacht wird. Derzeit gibt es aber noch keinen Intendanten und keine Intendantin des 21. Jahrhunderts", so Dobusch gegenüber DWDL.de. Tom Buhrow sprach vor wenigen Tagen davon, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Jahr 2030 "Open Source für wertvolle Inhalte" werde. Was das aber konkret heißt, ist unklar. 

Wann kommt die Verschmelzung? 

Schon seit einiger Zeit arbeiten ARD und ZDF an der Stärkung ihrer Mediatheken. Bei der ARD etwa führt man alle Angebote der Landesrundfunkanstalten unter einem Dach zusammen, auch untereinander verlinkt man sich seit etwas mehr als einem Jahr - die Ergebnisse sind derzeit noch mittelprächtig. Außerdem gibt es ein gemeinsames Login, so will man die Personalisierung in den Mediatheken erhöhen. Andere Funktionen fehlen derzeit noch, aber beide Sender haben sich die Personalisierung in ihren Mediatheken auf die Fahne geschrieben, zuletzt erklärte das ZDF vor wenigen Tagen, die entsprechenden Features verbessern zu wollen.

"ARD und ZDF müssen versuchen, ein öffentlich-rechtliches Ökosystem zu schaffen", sagt Leonhard Dobusch. Dazu müsse man auch andere, gemeinnützige Angebote mitnehmen. Es brauche einen öffentlich-rechtlichen Netzwerkeffekt. Man tue alles dafür, damit es eine Alternative zu den bestehenden Medien-Infrastrukturen wie YouTube gebe, sagt Tanja Hüther. "Das geht nur mit einer eigenen Plattform, die dann auch eine gewisse Größe benötigt." Fest steht: Die vom damaligen ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm eingebrachte Idee einer europäischen Super-Mediathek ist nach wie vor in weiter Ferne. Auch Tom Buhrow setzt sich mittlerweile für ein gemeinsames Angebot von ARD und ZDF. Noch ist man aber vor allem mit sich selbst beschäftigt. 

Geld verdienen ARD und ZDF mit ihren YouTube-Aktivitäten übrigens keins. Einnahmen aus Werbung und Sponsoring auf YouTube sind ihnen laut Medienstaatsvertrag untersagt - mit Ausnahme von Produktplatzierung. Das ist aber keine relevante Größe. Auf absehbare Zeit wird sich das wohl auch nicht ändern. Bei ARD und ZDF wird es in den nächsten Monaten vor allem darum gehen, weiter bei YouTube zu experimentieren und festzulegen, was man dort verfügbar machen will und, das ist vielleicht noch wichtiger, was nicht.

Eckart Gaddum kündigt gegenüber DWDL.de den Start eines Nachhaltigkeitskanals für den Mai an. Kollegen aus den Redaktionen von "planet e" und "Plan B" entwickeln die Inhalte. Und es gibt noch eine andere Baustelle: Den YouTube-Kanal von "WISO" nämlich, den will man noch im laufenden Jahr neu aufsetzen. Denn ganz offensichtlich gibt es Probleme, die User mit den Verbraucherthemen in der bisherigen Form zu erreichen. Zwar kommt der Kanal auf mehr als 50.000 Abonnenten, die einzelnen Videos haben aber meist nur wenige tausend Aufrufe - wenn überhaupt. Vielleicht kann man sich da ja von Mai Thi Nguyen-Kim beraten lassen, die künftig für die Mainzer arbeitet. Es muss ja nicht gleich das meistgesehene Video 2021 dabei herausspringen. 

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