Die Ossendorfer Puppenkiste

Foto: sendungsbewusstsein„Big Brother“ also: In meiner Erinnerung gab es nur eine Staffel, die von Zlatko, Jürgen und der fetten, insolventen Dachdeckerin. Fünf also, und jetzt sechs, so Z., ein Freund, der oft mehr weiß als ich und oft weit reist, um sich grässliche Dinge anzusehen. Er erzählte mir von einem Dorf.

„Irgendwann kam es mir dann komisch vor, dass an den Wänden überall Spiegel waren“, eröffnet Z. seine kleine Geschichte. Ihm sei gar nicht aufgefallen, dass er sich mitten in einem Fernsehstudio befinde, erklärte er, während ich mich an Herrn Truman erinnere, der vor einer Fernsehkamera geboren wurde und masturbierte, ohne es zu wissen. Wird es ihn doch noch irgendwann geben? Nein, zumindest nicht im neuen Dorf, meint Z.. Der Producer sagte, es solle auf keinen Fall Schwangerschaften geben, aber ein Kinderwagen stünde trotzdem in der Deko.

Was Eins betraf, so war mir noch vieles klar und wenig unheimlich gewesen: Ein schickes Haus mit durchschnittlichen Menschen, die durchschnittlich auf Fernsehkameras reagieren, indem sie weitestgehend unbeholfen versuchen, einen ihnen als telegen anmutenden Charakter anzunehmen; ein Haufen schlecht bezahlter Laiendarsteller in einer mit Suspense-Musik unterlegten Sitcom, deren einziger Unterschied zu „Alle Unter einem dach“, „Unter Uns“ oder „Verbotene Liebe“ darin bestand, dass sich ihre non-scripted Dialogfetzen vorprogrammierter anhörten als Telefonsex-Werbung im Videotext und damit ungewollt zur Anti-Reality wurden, einem Puppentheater, in dem die schnüre neonfarben angemalt waren. Einer Show, deren Reiz darin bestand, dass die Showmaster zum ersten Mal auf der Bühne standen und den Text noch nicht so gut konnten.

Zwei bis Fünf, das habe ich bereits zugegeben, ging an mir vorbei, vielleicht, weil sich Souffleure eingemischt hatten, oder weil zwischendurch die zweitklassigen Profi-Entertainer in die Puppentheater eingezogen waren. Ich beteiligte mich auch nicht an den Meckereien im Freundeskreis, dem gelangweilten Jaulen, das dann aufkam, wenn man sich über nichts anderes unterhalten konnte und irgendwas aus dem Container zog.

Z. dagegen war im Dorf. Sechs, so mutet es an, wird sehr ernst. Markant sollen die Charaktere der Puppen werden, ein eigenes Konto soll jedem Bewohner zustehen, vom „Hiwi“ zum „Chef“ können sie aufsteigen. Hartz IV betrifft auch RTL-II-Laiendarsteller: In einer Autowerkstatt soll geschraubt, in einem Modelabel an ‚hippen Entwürfen’ gearbeitet werden. Die Püppchen sollen nicht nur die 100 Kameras kennenlernen, sondern auch Leistung und Wettbewerb, so wie die gestressten Männer und Frauen, die sie für Quoten täglich zappeln lassen sollen.

Der Unterschied zwischen dem Dorf, von dem Z. erzählt, und dem Computerspiel, das meine WG-Mitbewohnerin täglich spielt, weil sie arbeitslos ist, liegt indes auf der Hand: Alle, die im Dorf einziehen und mit Theater machen, teilhaben an dem Versuch, an Demütigung zu wachsen, sind hammermäßig animiert, „geile Grafik“ würde meine Mitbewohnerin sagen.

„Ein gesellschaftlicher Mikrokosmos mit Klassenkampf, Neid sowie reale Chancen für soziale Auf- und Abstiege“, sagen die Macher von Big Brother. „Sie wollen essen und schlafen, sie brauchen Freunde, Lebenspartner und Familie. Wohnungen und Häuser müssen gebaut, ein Job gefunden und unvorhersehbare Katastrophen gemeistert werden – so wie im richtigen Leben“, sagen die Macher von The Sims.

Ob nach Eins, der unfreiwilligen Komik, und Zwei bis Fünf, der freimütigen Katastrophe, Sechs etwas jenseits des Fernsehmülls wird, mit der uns RTL II sonst belästigt, liegt wohl vor allem daran, wie ernst die neuen Puppen ihre Rollen nehmen, wie lange sie an die Kameras glauben – Truman tat es nicht und wurde geliebt. Ob das Dorf Pappmaschee bleibt und die Deko Mummenschanz der Kölner Gesellschaft, hängt davon ab, wie weit die Kandidaten der Animation folgen. Und wie schnell sie anfangen, sie zu missachten. Sechs wird sich daran entscheiden, ob nach all den missglückten Versuchen eine der Figuren aufhört zu hüpfen und sich auf die Suche macht nach einer Schere.