Filmemachen heißt Schweigenkönnen. Wenn der Regisseur „Ruhe bitte!“ über das Set ruft, in dieser eigenartigen Mixtur aus Wohlwollen und Kasernenhof, herrscht blitzartig nicht bloß Ruhe, sondern Stille. Totenstille. Normalerweise. Jenseits des Studios aber, auf einem Passagierschiff zumal, kann bei voller Fahrt von Ruhe, geschweige denn Stille selten die Rede sein. Es dröhnt und ächzt, stöhnt und brüllt ja meist infernalisch, wenn 28.000 Pferdestärken rund 80.000 Tonnen Stahl, Plastik, Leute durchs Mittelmeer schieben. Also auch, wenn die Schauspieler Lukas Gregorowicz, Picco von Groote und Oliver Mommsen im lärmumtosten Ankerraum tief unter Deck Entschlossenheit mimen.

Schließlich wird jemand vermisst. Auf einer Kreuzfahrt. Nicht zum ersten Mal. „Passagier 23“ heißt ein Phänomen der Urlaubsseefahrt, demzufolge über 20 Menschen pro Jahr spurlos von Bord großer Schiffe verschwinden. "Passagier 23" heißt deshalb ein Roman des Bestsellerautors Sebastian Fitzek zum selben Thema. "Passagier 23" nennt RTL aber auch einen Film, den es im Frühjahr auf der Mittelmeerroute einer großen Reederei daraus gemacht hat. Als Polizeipsychologe Martin Schwartz sucht Gregorowicz auf dem Luxusliner von Kapitän Bonhoeffer (Mommsen) also eine vermisste Frau, die die Bordärztin Beck (Groote) in Szene 69 dort vermutet, wo man sein eigenes Wort kaum versteht.

Statt derart aufwändige Kulissen wie üblich an Land nachzubauen, hat das vielköpfige Team von Alexander Dierbach nämlich auf einem Kreuzfahrtschiff eingecheckt. Ein seltenes, weil teures Privileg in einem Metier, das seine Filmwelt dank digitaler Fortschritte zusehends im Rechner erschafft – ganz gleich, ob Wüstendrama, Bergabenteuer oder Hochseetörn. Letzterer jedoch, meint der Regisseur vieler Krimis, ließe sich unmöglich nur animieren. Die Enge, der Lärm, das Leben an Bord, Alexander Dierbach breitet beide Arme übers dicht bevölkerte Sonnendeck aus: „So was kann man unmöglich im Studio nachbauen.“

Und so darf er gut zwei Drittel des knapp zweistündigen Spielfilms im Ferienparadies von mehr als 2000 Fahrgästen erstellen, die zugleich Zaungäste, Zuschauer, Komparsen eines Psychothrillers Marke Fitzek sind. Arbeiten, wo andere Urlaub machen? Klingt knifflig. Alexander Dierbach aber findet die Bedingungen „sensationell“. Das ist so seine Art, euphorisch resolut. Er zeigt sie auch im Ankerraum, wo er kurz vor Neapel sein wuchtiges „Ruhe bitte!“ durch 19 Knoten Reisegeschwindigkeit brüllt und dabei doch entspannt wirkt mit Basecap, Sneakern, Kumpelgestus.

Zwei Szenen zuvor ist diese Lässigkeit sogar noch wichtiger, als sich 40 Leute um Dr. Becks winzige Praxis unter der Wasserkante drängeln. Und es wird auch beim Dreh auf dem geräumigen Panoramadeck nicht unerheblicher, wo ein Dutzend Anzugträger zwischen drei Dutzend Hilfskräften luxuriöse Geselligkeit simulieren. Es ist eine Simulation, die Eindruck macht auf einem Schiff, dessen Name der Eigner nicht lesen will. „Wir werden hier ständig für echtes Personal gehalten“, sagt Picco von Groote („Starfighter“) und fügt lachend „selbst vom Personal“ hinzu. „Im Mannschaftstrakt gucken viele vor meiner Uniform zu Boden“, ergänzt „Tatort“-Star Oliver Mommsen. „Kleider machen halt Leute.“ Nur der Hauptdarsteller ist zu beschäftigt für Interviews.

Und bald auch zu krank.

Die feuchte Luft, der viele Stress – Lukas Gregorowicz hat sich eine so schwere Erkältung zugezogen, dass er tags drauf den Kasino-Dreh absagt. Ausgerechnet. Wie in der letzten Fitzek-Verfilmung „Das Joshua-Profil“ sollte der Autor einen Cameo-Auftritt haben. Am Spieltisch. „Ich hab mich da eh nicht drum gerissen“, beteuert der Pulli-Träger im ungewohnt feinen Zwirn, als Dierbach der Crew frühmorgens die Absage überbringt. Fitzek wird also fehlen, wenn der Film am Donnerstagabend läuft. Aber nicht nur der. Was dem Ergebnis ebenso fehlt, ist die Atmosphäre des Romans, Fitzeks Gabe, mit Worten an Nerven zu zerren.

Gerade hebt Martin Schwartz einen Kinderprostitutionsring aus, da erfährt der Polizist, dass auf dem Kreuzfahrer Sirius ein vermisstes Kind mit dem Teddy seines Sohns im Arm, der fünf Jahre zuvor vom selben Schiff unterm gleichen Kapitän verschwunden war, aufgetaucht ist. Bei der Suche nach dessen Mutter gerät der traurige Cop zwei Stunden lang in ein Hochseekammerspiel voll dubioser Gestalten und mysteriöser Wendungen. Anders als das präzise Buch, ist der Film jedoch seltsam verworren. Anders als von RTL erwartet, kommt er dabei zwar weitestgehend ohne Effekthascherei aus. Die Darsteller allerdings sind entweder zu jung (Kim Riedle), zu schön (Liane Forestieri) oder zu cool (Aurel Manthei) um echt zu sein, ihre Dialoge gestelzt, alles überhaupt heillos überdramatisiert.

Dass „Passagier 23“ dennoch kein missratener Film ist, liegt am tapferen Lukas Gregorowicz auf schwimmendem Set. Dessen Aura ist von einer artifiziellen Wahrhaftigkeit, die es auch im realen Leben nur auf Kreuzfahrtschiffen gibt. „Ruhe bitte!“, brüllt Regisseur Dierbach durchs angestaubte Modell der 80er, bevor Oliver Mommsen und Picco von Groote wieder beherzt, aber aussichtslos gegen den Diesellärm anspielen. In fünf Meter Entfernung sind sie schon kaum noch zu hören. Ideale Drehbedingungen.