Menschen äußerlich einzuschätzen, ist gerade bei Frauen, die ja zeitlebens von früh bis spät (meist männlicher) Begutachtung unterworfen sind, stets heikel. Auf glatteres Terrain als Kolleginnen optisch einzuordnen, kann ein Journalist sich daher kaum begeben. Aber gut – ziehen wir rutschfestes Schuhwerk an und nehmen eine namens Sophie von der Tann unter die Lupe. Vor zwei Monaten allenfalls Ureinwohnern der Nachrichtenlandschaft bekannt, rückte die ARD-Korrespondentin am Morgen des 7. Oktobers schlagartig in ein Rampenlicht, das sie gesucht hatte, aber gewiss nicht so.

Denn wenige Stunden nach dem Hamas-Terror gegen Israels Zivilbevölkerung erklärt sie in der „Tagesschau“ das Unerklärliche. Und wie Sophie von der Tann in luftiger Kleidung sofort Parallelen zum Jom-Kippur-Krieg aufzeigt und Eskalationspotenziale im Libanon, wie sie beides in den Kontext innenpolitischer Proteste gegen Ministerpräsident Netanjahu stellt und das Versagen seiner Sicherheitsbehörden, wie dieser helle Kopf in aller Präzision Spontaneität mit Expertise mischt, fragen sich klischeeanfällige Hirnregionen instinktiv: Was macht die schulterfreie Frau Anfang 30 da bloß im ältesten Konfliktherd der jüngeren Geschichte?

Einfache Antwort: Ihre Arbeit. Und wie! Bald darauf nämlich schildert sie mit Schutzweste und Helm gepanzert vom „Morgenmagazin“ bis zu den „Tagesthemen“ nahezu durchgängig den Katastrophenfall. Und wie sie ungerührt, aber empathisch im Gefechtslärm steht, wird bei jeder Schalte deutlicher: es bedarf keiner Desperados mit Testosteronüberschuss und Raucherlunge, um Krisenherde greifbar zu machen, bedurfte es vermutlich nie. In einer hochkomplexen Welt wie unserer sind Kompetenz und Kontrolle wichtiger als Adrenalin und Ego.

Von ersterem, dafür reicht ein Blick in ihr Bildungsportfolio, hat die promovierte Akademikerin aus uraltem Adelsgeschlecht mehr als genug. Letzteres dagegen, betont sie im Video-Call, sei eher hinderlich als hilfreich, wenn ringsherum die Lunte brennt. Ihr wichtigstes Ziel laute entsprechend: „Ich will da lebendig rauskommen!“ Mindestens das zweitwichtigste aber sei gute Berichterstattung dank guter Vorbereitung und gutem Team. Der Tod nützt auch dem adrenalingesättigsten Ego nichts, wenn es noch etwas zu erledigen hat.

Und bei von der Tann hat vieles davon seit Kindesbeinen mit Israel zu tun. Das Land, die Leute, deren Historie, Qualen, Glaubensfragen – sie hat alles durchdrungen wie kaum ein Kollege zuvor, von Kolleginnen dieser jahrzehntelangen Männerdomäne ganz zu schweigen. Geboren 1991 (und nur entfernt verwandt mit der Reporter-Legende Hartmann), interessiert sich die kleine Sophie schließlich schon als Jugendliche für jüdisches Leben in Kassel.

Auch, als sie Theologie, Politik und Geschichte in Oxford, New York und London studiert hat, im ZDF-Studio Washington praktiziert oder beim Münchner BR volontiert, neben Englisch auch Französisch, Arabisch, Hebräisch gelernt, und zwar fließend: Sophie von der Tann behält Israel im Blick, immer. Und jetzt haben wir also sie im Blick, ständig. Eine Auslandskorrespondentin, deren Auftritt trotz Uniform so gar nichts mit der Strenge eines Gerd Ruge zu tun hat oder der Kühle einer Gabriele Krone-Schmalz, der Grandezza eines Peter Scholl-Latour oder der Noblesse einer Antonia Rados.

Sophie von der Tann schafft es nämlich, ihr enormes Fachwissen gepaart mit ebenso großer Neugierde an der jugendlichen Optik vorbei auf routinierte Art teilnahmsvoll wirken zu lassen, ohne dabei an Neutralität einzubüßen. Ein schwieriger Begriff, meint sie im Interview mit dem Medienmagazin "Journalist". „Ich würde ihn lieber durch Objektivität ersetzen“. Für eine Journalistin, die so eng mit ihrem Berichtsgegenstand verbunden ist, wäre ersteres wohl auch zu viel verlangt. Letzteres gelingt ihr dagegen spielend, seit sie im Sommer 2021 das ARD-Studio in Tel Aviv übernahm und von dort aus erklärt, was eigentlich unerklärlich ist.

Ähnlich unerklärlich übrigens wie Geschlechterfragen. Darauf angesprochen, reagiert Sophie von der Tann entsprechend reserviert. „Muss man erst ein fünfzigjähriger Mann sein, um in meinem Beruf nicht aufzufallen?“ Nein, muss man nicht. Und niemand belegt das aktuell eindrucksvoller als die 32-Jährige mit der Erfahrung eines halben Lebens fundierten Nahost-Interesses. Ein neuer Typus der Kriegs- und Krisenberichterstattung. Auf kontrollierte Art risikobereit, kompetent und dabei ungeheuer menschlich.