Sind wir also gar nicht so weit von den Briten entfernt? Wird der Unterschied zwischen deutschem Serien-Einerlei, das hierzulande in Presse und interessierter Öffentlichkeit zum großen Gähnen führt, und britischer Serien-Qualität, die die Welt begeistert, also vielleicht nur maßlos übertrieben?

Nicht ganz. Denn das, was „Call the Midwife“ so interessant macht, sind gerade die Unterschiede zur deutschen Serie, welche sich durch die fraglos vorhandenen Analogien zu „Um Himmels Willen“ nur um so deutlicher abzeichnen. Angefangen damit, dass „Call the Midwife“ in den 50er Jahren spielt. Die Serie basiert auf der in Großbritannien zum Bestseller avancierten Autobiographie einer Hebamme aus dieser Zeit, was nicht nur ein Garant für ein Gefühl von Authentizität ist, sondern zugleich auch dazu führt, dass der Zuschauer sich mit einer fremden Welt konfrontiert sieht, die in vielerlei Hinsicht anders funktioniert als die Welt, die er kennt. Es gibt keine Handys. Selbst Autos und Krankenwagen sind im armen Londoner East End eher eine Seltenheit. Die Hebammen sind zumeist mit dem Fahrrad unterwegs. Und wenn der Krankenwagen wegen des dichten Londoner Nebels mal nicht schnell genug durchkommt, dann kann es ihnen sehr leicht passieren, dass sie auch mit schwierigsten Fällen auf sich allein gestellt sind.

In seinem DWDL.de-Interview in dieser Woche hat Oliver Kalkofe gesagt, dass eine britische Serie den Zuschauer „auch schon mal intellektuell fordert anstatt ihn nur einzulullen.“ „Call the Midwife“ zeigt: Das gilt nicht nur für High-End-Produktionen wie „Luther“ oder „Sherlock“, sondern auch für eine vermeintlich einfache Familienserie. „Call the Midwife“ hat sicher nicht die narrative Komplexität von „Sherlock“ oder den psychologischen Feinsinn von „Luther“. Trotzdem fordert die Serie den Zuschauer – auf einem moderaten Niveau – heraus. Durch die Fremdheit des Settings und auch durch das gesteigerte dramatische Potenzial, welches darin liegt. Dadurch, dass wir uns in den 50er Jahren in einer der ärmsten Gegenden Londons befinden, kommen Geburten, die hier in der Regel als Hausgeburten stattfinden, regelrechten Abenteuern gleich, welche nicht selten einen Kampf um Leben und Tod bedeuten. Die Schwestern, welche selbst manchmal nur so gerade eben über die nötige Qualifikation verfügen, sind für die Menschen hier die erste und häufig auch einzige Anlaufstation für medizinische Hilfe. Jedes Mal, wenn sich die Hebammen auf ihre Fahrräder schwingen, dann hat das etwas von einer Fahrt ins Ungewisse.

Der geschichtliche Rückgriff ist in „Call the Midwife“ nicht einfach nur exotische Szenerie oder Nostalgie, sondern ein dramaturgisches Mittel, welches die Einsätze erhöht, die in den jeweiligen Geschichten auf dem Spiel stehen. „Um Himmels Willen“ ist ohne jede Frage eine der besseren deutschen Familienserien, sie neigt aber oft dazu, vor sich hinzuplätschern. Die Konflikte sind nur mäßig bedeutend. Und die Gefahr, die Kloster Kaltental droht, ist schon seit langem nicht mehr wirklich glaubhaft. Das ist in „Call the Midwife“ anders. Die Serie spannt die Zuschauer bisweilen ganz gehörig auf die Folter, was ihr nicht zuletzt deshalb gelingt, weil sie auch vor harten Themen nicht zurückschreckt, die in aller Schonungslosigkeit behandelt werden: Gleich in der zweiten Folge geht es um eine 15-jährige Prostituierte, die ein Kind zur Welt bringt, welches am Ende gegen ihren Willen und gegen ihre verzweifelten Bemühungen zur Zwangsadoption freigegeben wird. Ein Schritt mit fatalen Konsequenzen, wie sich sehr bald herausstellt.

Was die Serie emotional so wirkungsvoll macht, ist zudem der gemeinsame thematische Kern, um den sich alle Geschichten – sowohl die Episodenplots als auch die fortlaufenden Handlungsstränge rund um die weiblichen Protagonistinnen – drehen: es geht immer um die Liebe. Um mütterliche Liebe, freundschaftliche Liebe, romantische Liebe. Welche Bedeutung sie in unserem Leben einnimmt. Und welche positiven wie negativen Effekte sie zeitigen kann. Das ist häufig auch Gegenstand der Voice-Over-Narration der Hauptfigur (gesprochen von Oscar-Preisträgerin Vanessa Redgrave), welche aus unserer Gegenwart heraus einen Blick zurück auf ihr vergangenes Leben wirft.

Dabei ist „Call the Midwife“ aber von purer Gefühlsduseligkeit weit entfernt. En passant wird die Serie auch ganz schön politisch. Sie thematisiert die britische Klassengesellschaft – und feiert das (von konservativer Seite gerne angegriffene) staatliche Gesundheitssystem NHS als wichtige Errungenschaft, welche für weite Teile der Bevölkerung überhaupt erstmals eine nennenswerte Gesundheitsversorgung geschaffen hat. Zugleich nimmt die Serie auch die reproduktive Selbstbestimmung der Frau – ein Thema, das bei der Ausstrahlung in den USA sicherlich noch etwas kontroverser diskutiert werden könnte als in Europa – in den Blick („I believe God is in the church and not in the bedroom“).

Aus einem spannenden Setting, das mit all seinen politisch-gesellschaftlichen Implikationen erzählt wird, einem starken emotionalen Kern und interessanten Figuren entsteht so in „Call the Midwife“ ein vielschichtiges Zeitporträt, welches den Zuschauer fordert, aber nicht überfordert – und damit die Voraussetzungen für ebenso anregende wie massenattraktive Familienunterhaltung schafft.