Wahre Größe, wer wüsste das besser als kleine Leute, misst man nicht in Zentimetern. Diese Devise gilt umso mehr bei Kindern, deren Format trotz kleineren Wuchses bekanntermaßen gewaltig ist. Und wer wiederum wüsste das besser als Steve Youngwood: körperlich gewiss kein Riese, ist der Medienmanager aus New York beruflich ein Gigant. Seit acht Jahren leitet er in wechselnder Position den „Sesame Workshop“. Eine – was hierzulande nur wenige wissen – NGO ohne Gewinnstreben, dafür mit Bildungsauftrag, der 1969 zum Bildschirmauftrag wurde.

Es waren bürgerrechtsbewegte Zeiten, als ihre „Sesame Street“ auf Sendung ging, um das konservative US-Fernsehen für unterhaltsame Pädagogik zu nutzen, und von Beginn an irgendwie immer dabei: Steve Youngwood. Kein Wunder: „Ich bin im selben Jahr geboren und buchstäblich mit ihr gewachsen“, erzählt er lachend über die „Sesamstraße“, und dass der Amerikaner sie deutsch ausspricht, deutet an, wo er sich dabei befindet: Zum 50. Geburtstag ihrer deutschen Fassung ist der kleine große Youngwood nach Hamburg geflogen. Denn hier entsteht das weltwichtigste Bildungsfernsehformat seit 1973 beim NDR – erst als synchronisierte Originalfassung, ab 1978 in lizensierter Eigenproduktion.

Steve Youngwood © Sesame Workshop
Grund genug, in der Elbphilharmonie zu feiern: nachmittags mit Sinfonieorchester vor gewöhnlichen Kindern, abends mit Fingerfood vor geladenen Gästen. Grund genug aber auch für den CEO der Non-Profit-Organisation, eine Fernsehfamilie vorzustellen, die gleichermaßen Vater und Baby für ihn ist. Auch in seiner Vorschulzeit saßen Kinder schließlich satte 27 Stunde pro Woche vor Mattscheiben, wie man die klotzigen Geräte damals nannte. Und weil es kein pädagogisches Programmangebot für den Nachwuchs gab, erinnert sich der 53-Jährige ans elterliche Wohnzimmer, „lernten wir halt Texte der Bier-Reklame“.

Nicht gerade die beste Vorschule fürs Leben, aber ein Anreiz für Youngwoods Vorgängerin Joan Ganz Cooney, Fernsehen neu zu denken: als elektronisches Medium, das auf heitere, respektvolle, diverse Art Wissen vermittelt – was im erzkonservativen Amerika Richard Nixons schon deshalb auf Widerstände traf, weil die legendäre Sesame-Gründerin dafür Puppen und Menschen aller Haut- und Fellfarben nutzte. Kinder am Bildschirm zu erziehen, und das auch noch mit Schwarzen, Latinos, Ernie & Bert: „Damals ein kühner Gedanke“, erzählt Youngwood.

Kein Wunder, dass sich reaktionäre Staaten wie Mississippi und Bayern aus Jim Hensons magischer Realität einer klassen- wie rassenlosen Großstadtstraße anfangs ausgeklinkt hatten. Umso wundervoller klingt da der anschließende Siegeszug dieses Karnevals der Kulturen. Und dem heutigen Tambourmajor Youngwood dabei zuzuhören, wie er davon schwärmt, zeigt eindrücklich, wie viel dabei von Herzen eines dreifachen Vaters kommt, der seit Jahrzehnten vorantreibt, was erst lange nach seinem Bachelor in Yale oder dem Management-Master in Stanford „Edudainment“ getauft wurde.

Schon bei seiner langjährigen Führungstätigkeit für Sesames Konkurrent Nickelodeon, dessen deutschen Ableger er einst mitaufgebaut hatte, sei es darum gegangen, „Kids als Medienkonsumenten ernst zu nehmen und Wissen mit Spaß zu vermitteln“, meint Youngwood mit Blick über die Hamburger HafenCity – ein Ort, der kaum exemplarischer für seine Arbeit stehen könnte. Denn dort, wo sich Europas größtes Neubaugebiet in 835 Jahre Stadtgeschichte drängelt, versucht der CEO im maritimen Wollpulli die Anforderungen ans Kinderfernsehen anno 2023 zu erklären.

Während das Prinzip der unterhaltsamen, gelegentlich albernen, also altersgerechten Bildung mit Humor 54 Jahre nach dem Erstbezug der „Sesame Street“ unverbrüchlich ist, hat sich die Darreichung stark verändert. Anfang der Siebziger hätten zwei von drei Kindern die TV-Sendung gesehen, erinnert er sich an die eigene Jugend. In der fragmentierten Gegenwart Hunderter Digitalangebote bestehe die Herausforderung demnach darin, „sie überhaupt zu finden“. Technisch gesehen müsse die Produktpalette von Social Media über Live-Events bis hin zur linearen TV-Ausspielung überall präsent sein – Youngwood zieht die Augenbrauen hoch: „If you can’t reach, you can’t teach“. Um die Zielgruppe dann auch bei der Stange zu halten, sollte man aber auch „ein bisschen schneller zum Punkt kommen“ als früher und mindestens ebenso zügig auf aktuelle Entwicklungen reagieren.

Steve Youngwood © Sesame Workshop
In der Pandemie schickte Youngwood seine Puppen daher ins Homeoffice, wo sie vermittelt haben, „dass Masken oder Impfstoffe richtig sind.“ Das aidsgeplagte Südafrika bekam mal eine Figur mit HIV. Syrische Flüchtlingskinder speziell auf sie zugeschnittenen Bildungscontent. Und den der Ukraine wird spielerisch das Kriegsgeschehen erleichtert. Überall schneidet die unpolitische Sesamstraße gesellschaftliches Handeln lokal zu, damit „Kinder die Umstände, in denen sie sich befinden, so verstehen, dass keine Traumata entstehen oder vorhandene aufgearbeitet werden können“.

Weil die im friedensverwöhnten Nachkriegsdeutschland – drittältester Lizenznehmer nach Mexiko und Brasilien mit dem NDR als langjährigstem Partner – weniger innere wie äußere Verletzungen mit sich herumtragen, sind hiesige Puppen und Menschen da nochmals unpolitischer als in Krisenregionen, wo der Workshop die Vermittlung schulischer Fähigkeiten, aber auch „sozial-emotionale Skills“ mit Abermillionen an Spendengeldern unterstützt. Beim NDR dagegen? Gibt es Samson…

Ein Plüschbär, den die Generation X wegen seiner tapsigen Konturlosigkeit bis heute kritisch sieht. Und Steve Youngwood, der große Nachwuchsversteher aus dem riesigen New York? Nennt Präferenzen einzelner Charaktere „eine Generationenfrage“. Aber als „Fan von Big Bird“, wie der große gelbe Vogel Bibo aus den Gründungsjahren der „Sesamstraße“ hieß, „fand ich Samson unter den deutschen Figuren immer am besten“. Auch kleinere Menschen messen wahre Größe gelegentlich in Zentimetern.