Manchmal muss ein Text mit den Bedingungen beginnen, unter denen er entsteht: Seit Monaten steht Hollywood still. Anfang Mai begann der Streik der Autoren mit ihrer Gewerkschaft WGA, Mitte Juli kamen die Schauspieler über SAG-AFTRA hinzu, viele weitere Berufsbilder im Hintergrund haben aus Solidarität gegen die Unterhaltungskonzerne und Beschäftigungsbedingungen ihre Arbeit niedergelegt. Für sie steht viel auf dem Spiel, denn abseits von einigen wenigen Superstars an der Spitze lebt der Großteil der Kreativen in finanzieller Unsicherheit. Ihre Karrieren liegen auf Eis, die Streikkassen sind schmal und doch befolgen sie die wichtige Ansage, nicht mit den bestreikten Firmen zu arbeiten und keine Promotion für sie zu betreiben.

Das heißt für diesen Artikel: Über konkrete Projekte und Rollen kann es nicht gehen – alles, was nach Werbung für die Konzerne ausschaut, fällt unter das Streikrecht. SAG-AFTRA schreibt in der Streik-FAQ aber auch: "Ja, mach für Dich als Künstler Werbung, als Modeikone, als Gewerkschaftsaktivist, als Werbeschauspieler und als stolzes Mitglied von SAG-AFTRA." Das Interview für den Text ist ohnehin entstanden, als die Schauspieler noch nicht streikten.

Und so kann er eben doch hier erschienen, der Text über Christiane Seidel, eine deutsche Schauspielerin im US-TV- und Streaminggeschäft mit inzwischen einigen Serienerfolgen und über ihren Werdegang. Der begann zwar weit weg von der Filmindustrie – aber immerhin schon auf der richtigen Seite des Atlantiks.

Texas to Schleswig-Holstein

Geboren wurde Seidel in Texas, natürlich noch ohne jede Ahnung, dass das später noch nützlich sein sollte: Wer in den Vereinigten Staaten auf die Welt kommt, erhält automatisch die US-Staatsbürgerschaft und die ist für viele Produktionsfirmen dort unabdingbar, die sich nicht auf unsichere Visumsverhältnisse ihrer Künstler verlassen wollen. Doch schon bald ging es für die Kernfamilie nach Deutschland, während andere Teile der Verwandtschaft in Dänemark wohnten.

"Mein Vater war Starfighter-Pilot in der Marine und war dann erst in Schleswig-Holstein stationiert, bevor wir nach ein paar Jahren nach Niedersachsen gezogen sind", erklärt Seidel ihren familiären Hintergrund. Grundschule und Gymnasium folgten im Ländlichen nahe Oldenburg und erste Berührungspunkte mit der Schauspielerei. "Schultheater habe ich schon in der Grundschule gespielt und Blut geleckt – aber ich wusste damals nicht, dass man das später als Beruf machen kann", erinnert sie sich. Am Gymnasium kamen dann nach der Theater-AG zum ersten Mal Menschen auf sie zu und sagten: "Mach doch das!" – Bereit, es zu hören, war sie noch nicht.

"Ich bin sehr aufgewachsen mit diesem Gedanken, bloß nicht herauszuragen oder etwas Besonderes zu sein", sagt sie zu diesen ersten Schritten. "Am Anfang musste ich mir selber die Erlaubnis zur Schauspielerei geben, glaube ich." 

Ihre innere Stimme sollte sich ausgerechnet an einem unfassbar lauten Ort melden.

Ein neuer Traum - mitten auf dem Times Square

"Nach der Schulzeit war ich zu Besuch in New York. Da stand ich am Times Square und dachte nur: 'Boah!!! Hier muss ich hin!'", sagte sie heute lächelnd.

Der Traum war da, doch der Mut musste erst langsam wachsen. Zunächst gab es noch einen Umweg: ein solides Medienmanagement-Studium in Deutschland.

"Das war einfach mein Bezugspunkt dafür, irgendwas mit Medien zu machen. Ich habe da eigentlich schon gewusst, ich will Schauspielerin werden, aber ich hatte immer Angst, das selbst auszusprechen", erinnert sie sich. "Ich dachte: Was gibt mir denn bitte die Legitimation, dass ich Schauspielerin sein könnte?"

Eine Schule hilft bei den ersten Schritten in der neuen Welt

Trotz dieser leisen Zweifel keimte der Traum von der US-Glitzermetropole weiter und schließlich erlaubt sich Seidel einen Trick: "Ich habe einfach gesagt: Ich mache das jetzt drei Monate und gehe da hin. Ich muss das aus meinem System kriegen und dann will ich es wenigstens gemacht haben, damit ich hinterher sagen kann, dass es nichts für mich war." 

Sie beginnt 2006 ein Schauspieltraining an der auch in Deutschland sehr bekannten Lee-Strasberg-Schauspielschule. "Richtig typische Story", sagt sie heute lachend. "Mit einem oder zwei Koffern hierher und gesagt: I’m ready, New York!" – manchmal sei es ja vielleicht ganz gut, ein wenig naiv zu sein, was mögliche Schwierigkeiten angeht, glaubt Seidel. Doch einmal angekommen, merkt sie schnell: Die anderen Leute im Kurs machen das Gleiche durch wie sie.

Christiane Seidel © IMAGO / Independent Photo Agency Int. Christiane Seidel beim Swiss Locarno Film Festival 2022

"Es verbindet einen einfach. Man kommt aus seinen kleinen Gefilden nach New York und wird dann an diese Schauspielschule transportiert und erlebt die wildesten Sachen", beschreibt sie die Erfahrung. "Eine Schauspielausbildung ist ja sehr nach innen gerichtet, man reflektiert viel, lernt viel und versteht viel über sich, auch was im Körper gespeicherte Anspannung angeht", sagt sie. Als es daran geht, eine der üblichen Aufwärmübungen auszuprobieren und den Kiefer zu entspannen, habe sich plötzlich etwas gelöst. "Da liefen mir auf einmal die Tränen", sagt Seidel, die noch heute von der Sicherheit und Wärme des Umfelds an der Schauspielschule schwärmt. Immer noch habe sie sehr enge Freunde aus dieser Zeit.

Nach Strasberg ging es stetig mit anderen Kursen weiter – ein weiterer Vorteil am Melting Pot New York sind schließlich die vielen Vorbilder, bei denen man lernen kann. Erste kleine Rollen in einem Kurzfilm und einer Serie kamen, das Gefühl, dass der große Traum von der Schauspielerei in den USA vielleicht doch nicht so unrealistisch sein könnte.

Die Eltern daheim fragten zwar weiter, ob die Norddeutsche im Herzen nicht auch wieder zurückkommen wolle, aber zum ersten Mal konnten sie ihre Tochter auch selbst im TV erleben. "Ich brauchte nicht unbedingt deren Erlaubnis, aber irgendwie deren Segen", wägt Seidel ab. "Das war dann so ein Job, den sie im Fernsehen sehen konnten."

Habe noch kein Erfolgsrezept gesehen, das für alle funktioniert.


Es folgten weitere Serienrollen, teils auch längere mit mehreren Folgen – zuletzt in einer der weltweit meistgesehenen Streamingserien während der Pandemie. Ein Schritt folgte auf den nächsten und doch ist der Weg noch lang, sagt Seidel heute. "Ich habe noch kein Erfolgsrezept gesehen, das für alle funktioniert", sagt sie. Stattdessen hätten ihre Lehrer ihr beigebracht, dass es 10.000 Stunden brauche, um etwas Neues tatsächlich zu meistern. 

Ihr gefällt die Definition eines Lehrer: "Success means preparation meets luck" – "Erfolg passiert, wenn Vorbereitung auf Glück trifft." Daran glaube sie, sagt Seidel. "Auch die, von denen man hört, sie seien über Nacht zum Erfolg geworden, sind trotzdem schon oft zehn oder 20 Jahre dabei." Genau dieses Glück hat sich aber bisher ganz gut ergeben. Sie suche nach dreidimensionalen, herausfordernden Rollen – "eben keine Kleiderbügel", wie sie sagt. 

Dass dabei im Showbusiness die Außenwahrnehmung mit dem eigenen Gefühl oft etwas auseinander liegt - geschenkt. "Manchmal sagen mir die Leute, dass ich häufig harte Frauen spiele, aber damit identifiziere ich mich selber gar nicht", meint sie. "Ich glaube, das was ich nach außen ausstrahle, ist nicht genau das, was ich selber fühle – aber das ist vielleicht auch oft bei vielen Menschen so." Umso wichtiger sei es, zumindest auch auf eigenen Kanälen einen Gegenpunkt zu setzen: "Ich liebe es, mir ein tolles Kleid anzuziehen. Und dann gehe ich nach Hause, ziehe eine Jogginghose an und lege mich zu den Kindern."

Eine Idee für die Rückkehr nach Deutschland? Ab in den "Tatort"

Und vielleicht ist ja sogar irgendwann die Rückkehr nach Deutschland drin. "Ich dachte immer beim 'Tatort' sein, das wäre reizvoll für mich", sagt sie. Zwei regelmäßige Filme einer renommierten Reihe im Jahr, durchgängige Figuren, das fände Seidel eine sehr gute Herausforderung. Gerade die Anerkennung jüngerer deutscher Serien und Filme sei ein Anreiz, es auch mehr in der Heimat zu probieren, sagt sie.

Ob es mit der Rückkehr in die alte Heimat wirklich so kommt? Wer weiß. Inzwischen lebt Seidel seit mehr als 15 Jahren in New York, hat Mann und Zwillinge nahe am Zoo in Prospect Park, einem Teil von Brooklyn, der mit jungen Familien und viel Grün gerade Berliner New-York-Besucher an den Prenzlauer Berg erinnert. Ihre Zeit teilt sie auf zwischen den USA und Dänemark, wo sie auch in einem seit Generationen bestehenden Familienunternehmen in der Landwirtschaft mithilft. Nach dauerhafter Rückkehr nach Deutschland klingt das erst einmal nicht.

Was die Branche im Streik erreichen will

Was ist aber nun mit dem Streik? Dazu sind die Gewerkschaftsmitglieder angehalten, sich möglichst nicht konkret zu äußern. Agenten und Management raten, die Gewerkschaftsspitzen und Verhandlungsführer mit einer Stimme sprechen zu lassen. Aber dass Seidel die Ziele des Arbeitskampfs unterstützt, zeigen beispielsweise weitergeleitete SAG-AFTRA-Postings auf ihrer LinkedIn-Seite.

Sie erklären auch noch einmal die Ziele des Arbeitskampfs: Allgemein stößt es den Kreativen auf, wie die Arbeit an der Basis kaputtgespart wird, während gleichzeitig goldene Unterhaltungszeitalter ausgerufen werden und Hollywoods Vorstände Rekordsummen mit heim nehmen. Konkret geht es um vier Punkte: generell höhere Bezahlung, stärkere Beteiligung an der Zweitverwertung (vor allem im Streaming), das Ende von unbezahlten und ausbeuterischen Castingprozessen daheim, sowie verbindliche Regeln für den künftigen Einsatz von Künstlicher Intelligenz – die Gefahr durch computergenerierte Schauspieler ersetzt zu werden ist für viele sehr real.

Seit Wochen ist da also nun dieser Stillstand und ein Statement zur Zukunft ist gerade wie alles andere auch on hold. Von außen mit der Journalistenbrille betrachtet scheint es aber so, als sei das einfach nur die nächste Herausforderung für die es all das braucht, was Seidel auch bis hierhin ausgezeichnet hat: ein langer Atem, viel Vorbereitung und etwas Glück.