"Die Geschichte, die Sie gleich sehen werden, beruht auf einer wahren Begebenheit" - so oder so ähnlich werden heutzutage allzu gerne Filme und Serien eingeläutet, um den Zuschauer je nach Genre noch mehr zu berührne, gruseln oder fesseln. Meistens funktioniert dies auch, löst doch der Gedanke, dass das, was wir da gerade sehen, wirklich so geschehen ist, ein aufregendes Gefühl in uns aus. Schreibt die Realität die besseren Geschichten? Bei den diesjährigen Primetime Emmys haben beispielsweise "All the Way", "The People vs. OJ Simpson" und "Making a Murderer" gute Gewinnchancen.

Schaut man sich jedoch die großen Gewinner der letzen Jahre an, findet man nur mit Ach und Krach Serien und Fernsehfilme, die in entferntester Weise mit einer wahren Geschichte in Verbindung gebracht werden könnten. Tatsächlich findet man seit 2010 gerade einmal zwei Sieger, die wirklich in diese Kategorie fallen: Louis C.K, der mit seiner Sitcom "Louie", die frei auf dem Leben des Komikers basiert, zwei Mal für "Outstanding Writing for a Comedy Series" ausgezeichnet wurde und das politische Drama "Game Change", dass 2012 ganze fünf Emmys abräumen konnte, darunter die Ehrung als "Outstanding Miniseries or Movie". 

Das sollte "All the Way" Hoffnungen machen, stehen die Sterne wie bei "Game Change" in etwa gleich: HBO ist der Produzent, bekannte Gesichter schmücken das Cover - und es wird ein politisches Ereignis aus den USA aufgegriffen. In diesem Fall den kurzfristigen Präsidenteneinsatz von Lyndon B. Johnson (verkörpert von Bryan Cranston), nachdem John F. Kennedy auf offener Straße ermordet wurde. Nach dieser Logik wäre "All the Way" jedenfalls trotz ehrfürchtigen Kontrahenten wie "Luther" und "Sherlock" ein Favorit in der Kategorie "Outstanding Television Movie". Obwohl: Mit "Confirmation" ist dort ebenfalls eine wahre, politische Begebenheit im Rennen. Auch hier wäre HBO der Sieger.

Was für mächtige Geschichten die Realität erfinden kann, beweist auch die Netflix-Serie "Narcos", die sich mit dem Aufstieg Pablo Escobars und dem kolumbianischen Medellín-Kartell beschäftigt. Die so absurd klingenden Droggenschmuggel von Kolumbien in die Vereinigten Staaten faszinierten Fans und Kritiker gleichermaßen und zeigen mit der Verwendung von echtem Videomaterial vor allem, dass der Zuschauer nicht immer hochglanzpolierte Kino-Bilder braucht, um zufriedengestellt zu werden. Nicht ganz so zufrieden scheinen jedoch die Academy-Mitglieder, die "Narcos" für gerade einmal drei Nebenkategorien nominierte.

Ein bisschen anders sieht es da beim nicht weniger spektakulären Fall von O.J. Simpson und der "American Crime Story" aus. In einem unfassbaren Krimi wurde der ehemalige US-amerikanische American-Football-Spieler und Schauspieler trotz erdrückender Beweise, die seine DNA-Spuren dem Tod seiner Exfrau Nicole Brown Simpson und deren Bekannten Ronald Goldman zuordneten, nicht verurteilt und blieb auf freiem Fuß. Wahrlich eine Geschichte, die sich für eine Aufbereitung empfiehlt und in ihrer Serienform auch entsprechende Aufmerksamkeit bekommen hat. Mit starken 22 Nominierungen ist die FX-Produktion beinahe auf dem Level von "Game of Thrones" (23 Nominierungen) und könnte zum großen Abräumer werden. Ganz oben auf der Wunschliste steht ein Sieg in der Kategorie "Outstanding Limited Series", in der sich FX mit "Fargo", ebenfalls eine Eigenproduktion, eigentlich nur selbst schlagen kann.

Höchst ironisch wird der Kampf zwischen "American Crime Story" und "Fargo" dann, wenn man sich explizit den Realitätsanteil der Serien anschaut. Wo die Geschichte rundum O.J. Simpson komplett davon profitieren kann, einem echten Fall abzustammen, kokettiert "Fargo" durchgehend mit der vermeintlich realen aber komplett erfundenen Story. Mit den pro Folge eingeblendeten Worten "This is a true Story" möchte Regisseur Noah Hawley, ebenso wie es die Coen-Brüder im filmischen Original taten, lediglich zynisch mit diesem Zusatz spielen, den so viele Filme und Serien nutzen, um ihre Geschichte dramatischer wirken zu lassen.

Und dann gibt es da noch einen Fan-Favoriten bei den diesjährigen Emmys, der schon bei den der TV-Gala vorgelagerten Creative Arts Emmys (am Wochenende 10./11. September) abräumen könnte: "Making a Murderer" war für Netflix das bislang aufsehenerregendste Doku-Projekt. Wurden die neuen SVoD-Anbieter zuvor zu gerne in die rein fiktionale Ecke geschoben, bewies diese Doku-Serie dass das auf Abruf verfügbare Genre-Spektrum größer wird. Die unglaubliche Geschichte des Steve Avery in den Fängen der US-Justiz hat bewiesen: Die Realität kann so spannend sein wie eine Serie - und genauso zum Bingewatchen verführen.